Midnight Angel: Dunkle Bedrohung (German Edition)
zu genießen.
Bald fanden sie einen Rhythmus, der ihnen erlaubte, ein bisschen schneller zu gehen, und offenbar wollte sie das. Sie musste sich monatelang sehr zögerlich tastend fortbewegt haben. Jetzt, wo sie keine Angst mehr hatte, zu stolpern oder gegen einen Laternenpfahl zu laufen, ging sie mit zuversichtlichem Schritt und erhobenem Kopf.
Innerhalb von zehn Minuten waren ihre Wangen von der Kälte gerötet. Lebhaft plauderte sie ihm etwas vor. Er gab angemessene Antworten und hörte zu, während er vor ihnen nach Hindernissen Ausschau hielt. Allerdings fiel es ihm schwer, die Augen aufs Pflaster zu richten. Allegra blühte förmlich auf, und nur durch ihn. Es war unglaublich.
Er hatte das bewirkt. Er verschaffte ihr Bewegungsfreiheit. Zu beobachten, wie sie ihre wiedergefundene Freiheit auskostete, war unerträglich bewegend.
Nachdem sie mehrere Bordsteine und Treppen überwunden hatten, gab Allegra ihren schlurfenden Schritt ganz auf und ging normal. Ihre freudige Erregung war noch gestiegen. Sie brummte vor Energie.
Es war kalt, aber trocken und sonnig, genau das richtige Wetter für ihre Unternehmung. Es lag gerade so viel Schnee, dass es befriedigend knirschte, das Gehen aber nicht mühsam war.
»Sind wir schon an dem blauen Haus vorbei ?« , fragte Allegra. »Es liegt auf der rechten Straßenseite .«
Jep, da war es, ein Cape-Cod-Haus mit verschiedenen Blautönen. Die Vorhänge waren zugezogen, in der Auffahrt stand kein Wagen. Es wirkte unbewohnt. »Ja, wir nähern uns. Scheint niemand zu Hause zu sein .«
»So ist es. Es gehört diesem schwulen Pärchen, Tom und Jerry. Unglaublich, die Namen, hm? Tom Edelman und Jerry Solarian. Jerrys Firma ist an die Börse gegangen. Er hatte eine Unmenge Optionen und hat einen Riesengewinn gemacht. Er wird nie wieder arbeiten müssen, der Glückspilz. Die beiden machen eine einjährige Weltreise. Ich schätze, sie sind jetzt auf Tahiti. Die kriegen einen Anfall, wenn sie zurückkommen und feststellen, dass dieser widerliche McMansion jetzt neben ihnen wohnt. Der besitzt eine Restaurantkette und treibt Spenden ein für die Republikaner. Er ist wahnsinnig schmierig und gibt ständig mit seinem Geld an. Tom und Jerry werden ihn verabscheuen. Ich würde alles wetten, dass sie verkaufen, sobald sie sehen, wer ihr neuer Nachbar ist und dass er dieses Monstrum neben ihnen gebaut hat. Ist es nicht schrecklich ?«
Da hatte sie recht. Es sah größer aus als das Grundstück, auf dem es stand. Es hielt sich an den Baustil der anderen Häuser an der Straße, war nur zehnmal so groß. Wie aufgebläht.
»Es ist ziemlich hässlich, ja « , pflichtete Kowalski gelassen bei. »Aber ich glaube nicht, dass Republikaner einen Hang zu hässlichen Häusern haben .«
Sie lachte. »Vielleicht nicht, vielleicht sieht es nur so aus. Das Haus neben dem von McMansion gehört einem wirklich netten Paar. Er unterrichtet amerikanische Geschichte an der Portland State und sie ist Anwältin. Er spielt ausgezeichnet Bluegrass-Gitarre. Hat mich zwei Jahre lang immer wieder angesprochen, ob ich nicht mal mit ihm jammen will. Kannst du dir das vorstellen – Bluegrass auf einer keltischen Harfe ?«
Kowalski überlegte. »Könnte funktionieren. Würde dir vielleicht Spaß machen .«
»Kann sein. Vielleicht werde ich eines Tages auf das Angebot eingehen. Sind wir schon an der Ecke McPherson? Da möchte ich nämlich nach rechts zum Lawrence Square laufen. An Sonntagnachmittagen tritt da manchmal ein Madrigalchor auf .«
»Wir kommen gerade an die Ecke … jetzt. Schritt nach unten .« Kowalski hielt sie fester. Sie überquerten die Straße und gingen nach rechts. Allegra schien auch in dieser Straße jeden zu kennen.
Wie machte sie das? Woher wusste sie all die Dinge über die Leute? Er könnte zwanzig Jahre in der neuen Wohnung leben und wüsste noch immer nichts über das Privatleben seiner Nachbarn.
Sie erzählte ihm die Geschichte der Straße: Die war früher ein zerfurchter Karrenweg gewesen, auf dem das geschlagene Holz zur Mühle gezogen wurde, die mal zwei Meilen von dort gestanden hatte. Für einen Mann, der nie Nachbarn gehabt und nirgends lange genug gelebt hatte, um die Ortsgeschichte kennenzulernen (außer bei einem Militärstützpunkt), war das alles faszinierend.
Noch faszinierender war die strahlende, temperamentvolle Allegra neben ihm. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag, dass dies die eigentliche Allegra war: diese hinreißende, lachende Frau. Er hatte den Schleier der
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