Midnight Breed 02 - Gefangene des Blutes-neu-ok-10.11.11
erinnern, wann sie das Gelände des
Dunklen Hafens zum letzten Mal verlassen hatte. Die Außenwelt hatte für sie
lange Zeit einfach nur Schmerz bedeutet, aber vielleicht konnte sie diesen
Schmerz nun ertragen.
Für Camden konnte sie alles
ertragen. Oder etwa nicht?
Als sie die schweren Türflügel
aufdrückte, blies ihr ein Schwall kalter, frischer Luft eisige Graupelkörner
entgegen, die ihr auf den Wangen brannten. Elise wappnete sich innerlich, dann
trat sie hinaus ins Freie, ging die Treppe aus Klinkersteinen mit dem
schmiedeeisernen Geländer hinunter. Unten auf dem Gehsteig floss ein dünner
Strom von Passanten vorbei, einige Schutz suchend aneinandergeschmiegt, andere
allein unter eilig wippenden dunklen Regenschirmen.
Einen Moment lang - den
winzigen Bruchteil einer Sekunde
- herrschte Stille. Aber dann
setzte ihre besondere Fähigkeit ein, die immer ihr Fluch gewesen war - eine
außergewöhnliche Gabe, wie sie jede Stammesgefährtin in unterschiedlichster
Ausprägung besaß - , und brach mit ganzer Gewalt über sie herein.
- ich hätte ihm erzählen
sollen, dass ich schwanger bin -
- ist ja wohl nicht so, dass sie mickrige zwanzig Mäuse vermissen werden
-
- hab ich der Alten gesagt, wenn ihr verdammter Mistköter noch ein
einziges Mal in meinen Garten scheißt, bring ich ihn um -
- er wird gar nicht merken, dass ich fort war, wenn ich jetzt einfach nach
Hause gehe und so tue, als sei gar nichts gewesen -
Elise hielt sich die Ohren zu,
als all die hässlichen Gedanken der menschlichen Passanten sie bombardierten.
Ausblenden konnte sie sie nicht. Sie flogen ihr wie ein Schwarm Fledermäuse
entgegen, ein wahnsinniger, durcheinanderwirbelnder Ansturm von Lügen, Verrat
und jeder nur erdenklichen Sünde.
Sie konnte keinen Schritt
weitergehen. Da stand sie nun, vom Regen durchweicht und durchgefroren, direkt
unter ihrer Wohnung im Dunklen Hafen, und brachte es nicht fertig, auch nur
einen einzigen Schritt zu tun.
Irgendwo da draußen war Camden
und brauchte sie, wartete darauf, dass sie - oder irgendjemand - ihn fand und
nach Hause brachte. Und doch ließ sie ihn im Stich. Sie konnte nichts tun, als
ihr Gesicht in den Händen zu vergraben und bitterlich zu weinen.
19
Die Dämmerung kam früh an diesem
Abend und brachte noch mehr kalten und beharrlichen Novemberregen mit, der aus
einem Nebelschleier schwarzer Wolken fiel. Die Wohnsiedlung in Bostons
Stadtteil Southie - mit ihrer Massenansammlung von aluminiumverkleideten
Zweifamilienhäusern und dreistöckigen Mietskasernen schon am hellen Tag kein
Augenschmaus - war unter dem sintflutartigen Dauerregen zu einem farblosen,
nassen Slum verkommen.
Dante und Chase hatten Ben
Sullivans heruntergekommenen Häuserblock vor einer guten Stunde erreicht und
warteten hinter den getönten Scheiben eines Geländewagens. Das Fahrzeug fiel
hier auf, schon allein wegen des makellos gepflegten Erscheinungsbildes, aber
es strahlte auch eine deutliche Fang-mit-mir-keinen-Scheiß-an-Schwingung aus,
die Schlägergangs und sonstiges Gesindel auf Abstand hielt. Die wenigen, die
nah genug am Fenster vorbeigingen, um einen Blick zu riskieren, sahen Dantes
Fangzähne durch das Glas aufblitzen und machten eilig, dass sie weiterkamen.
Dante war kribbelig von der
ganzen Warterei und wünschte halbherzig, einer der schwachköpfigen Menschen
wäre dumm genug, etwas zu riskieren, damit er ein wenig von seiner aufgestauten
Energie ablassen konnte.
„Sind Sie auch sicher, dass das
die richtige Adresse ist?“, fragte Chase neben ihm.
Dante nickte und trommelte mit
den Fingern auf das Lenkrad. „Ja. Ich bin sicher.“
Er war in Versuchung gewesen,
Tess’ Exfreund, dem Crimson-Dealer, allein einen Besuch abzustatten, hatte dann
aber doch vorsichtshalber Unterstützung mitgebracht. Unterstützung für Ben
Sullivan, nicht für sich. Denn wäre Dante allein gekommen, würde der Mann
womöglich nicht mehr atmen, wenn er mit ihm fertig war.
Nicht nur, weil Sullivan
dealender Abschaum war. Auch der Umstand, dass der Kerl Tess kannte und ohne
Zweifel höchst vertraut mit ihr war, entfachte Wut in ihm. Ungerufen hatte ihn
ein ängstlicher Besitzerstolz erfasst, ein Verlangen, sie vor Versagern wie
diesem Sullivan zu schützen.
Na sicher. Als ob Dante selbst
das große Los wäre.
„Wie sind Sie an seine Adresse
gekommen?“ Chases Frage riss ihn aus seinen Gedanken, und er besann sich wieder
auf ihre Mission. „Abgesehen davon, dass wir
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