Midnight Breed 02 - Gefangene des Blutes-neu-ok-10.11.11
dir niemals zeigen dürfen.“
„Nun, das hast du aber, und
jetzt solltest du mir vertrauen, damit ich alles verstehen kann. Wovor hast du
solche Angst, Tess? Vor mir oder vor deiner Gabe?“
„Hör auf, es so zu nennen!“ Sie
umarmte sich selbst mit festem Griff, Erinnerungen rissen sie mit wie ein
schwarzer, reißender Sog. „Du würdest es nicht Gabe nennen, wenn du wüsstest,
was es aus mir gemacht hat - was ich getan habe.“
„Erzähl es mir.“
Dante kam langsam auf sie zu,
sein Körper nahm ihr die Sicht auf alles andere und kam ihr bedrängend nahe.
Sie hätte gedacht, dass sie weglaufen würde - flüchten, sich verstecken, wie
sie es die letzten neun Jahre getan hatte. Aber ein noch stärkerer Impuls trieb
sie dazu, sich in seine Arme werfen zu wollen und alles aus sich herausströmen
zu lassen, abscheulich, aber reinigend.
Sie holte tief Luft und war
verlegen, als ein unterdrücktes Schluchzen ihr den Atem stocken ließ.
„Alles ist gut“, sagte Dante.
Seine sanfte Stimme und die zärtliche Art, wie er sie umarmte, ließen sie
beinah zusammenbrechen. „Komm her. Ist ja gut.“
Tess klammerte sich an ihn und
balancierte auf einem emotionalen Kraterrand, den sie fühlen konnte, doch sie
traute sich noch nicht hinzusehen. Sie wusste, der Absturz würde jäh und
schmerzhaft sein. So viele scharfkantige Steine warteten darauf, sie zu
verletzen, wenn sie fiel. Dante drängte sie nicht. Er hielt sie fest umarmt und
ließ sie an seiner soliden, verlässlichen Stärke teilhaben.
Schließlich fanden Worte den Weg
aus ihrem Innern bis zu ihrem Mund. Dort war ihr Gewicht zu schwer und ihr
Geschmack zu bitter, also zwang sie sie hinaus ins Freie.
„Als ich vierzehn war, starb
mein Vater bei einem Autounfall in Chicago. Meine Mutter heiratete im Jahr
darauf wieder; einen Mann, den sie in der Kirche kennengelernt hatte. Er machte
erfolgreich Geschäfte in der Stadt und hatte ein großes Haus am See. Er war
großzügig und freundlich - jeder mochte ihn, sogar ich, ungeachtet der Tatsache,
dass ich meinen leiblichen Vater sehr vermisste. Meine Mutter trank; sie trank
eine ganze Menge, schon solange ich mich erinnern kann. Ich dachte, es würde
ihr bessergehen, nachdem wir in das Haus meines Stiefvaters gezogen waren, aber
es dauerte nicht lange und sie hatte einen schlimmen Rückfall. Meinen Stiefvater
kümmerte es nicht, dass sie Alkoholikerin war. Er hielt die Bar immer schön
gefüllt, sogar nach ihren schlimmsten Trinkgelagen. Ich fing an zu begreifen,
dass er sie betrunken vorzog und es viel besser fand, wenn sie ganze Abende
weggetreten auf der Couch verbrachte und nicht mitbekam, was er trieb.“
Tess fühlte, wie Dantes Körper
starr wurde. Seine Muskeln vibrierten mit einer gefährlichen Spannung, die sich
anfühlte wie ein Schild der Stärke, der sie schützend deckte.
„Hat er dich … angefasst, Tess?“
Sie schluckte schwer und nickte
an seiner nackten Brust. „Als es anfing - fast ein ganzes Jahr lang - , war er
vorsichtig. Er umarmte mich eine Spur zu innig und zu lange und sah mich auf
eine Art an, die mir unangenehm war. Er versuchte mich mit Geschenken und
Partys für meine Freunde im Haus am See für sich zu gewinnen, aber ich war
nicht gern zu Hause, und sobald ich sechzehn war, hab ich die meiste Zeit
woanders verbracht.
Ich habe bei Freunden
übernachtet, war den Sommer über in einem Camp, alles nur, um weg zu sein. Aber
schließlich musste ich wieder nach Hause. Die Sache eskalierte in den Monaten
vor meinem siebzehnten Geburtstag. Er wurde mir und meiner Mutter gegenüber
gewalttätig, schubste uns herum, sagte schreckliche Dinge zu uns. Und dann, eines
Nachts …“
Tess’ Mut schwand. Ihr Kopf
schwamm in dem erinnerten Lärm von Flüchen und wilden Schimpftiraden; dem
plumpen Getöse betrunkenen Stolperns; dem splitternden Krachen von
zerbrechendem Glas. Und sie konnte noch immer das leichte Knarren ihrer Schlafzimmertür
hören wie in jener Nacht, in der ihr Stiefvater sie aus ihrem unruhigen Schlaf
weckte, sein Atem stinkend nach Schnaps und Zigarettenqualm.
Seine fleischige Hand war salzig
und verschwitzt, als er sie ihr auf den Mund presste, um sie am Schreien zu
hindern.
„Es war mein Geburtstag“,
flüsterte sie benommen. „Er kam gegen Mitternacht in mein Zimmer und sagte, er
wolle mir einen Geburtstagskuss geben.“
„Dieses widerwärtige Schwein.“
Dantes Stimme war ein bösartiges Knurren, aber seine Finger waren sanft, als er
durch ihr Haar
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