Midnight Breed 06 - Gesandte des Zwielichts-neu-ok-16.11.11
bleiben. Es hatte sie zuerst beunruhigt, aber
jetzt, als sie gezwungen war, Andreas' durchdringendem Blick standzuhalten,
spürte sie eine Welle der Scham. Wie hatte sie nur denken können, dass ihr
eigener Gefährte sie wissentlich einer Gefahr aussetzen würde. Natürlich war
sie nie ein hilfloses Frauenzimmer gewesen, und Wilhelm hätte nicht von ihr
erwartet, dass sie bei Andreas blieb, wenn er ihr nicht zugetraut hätte, die
Situation in den Griff zu bekommen.
Diese Erkenntnis fühlte sich allerdings etwas
hohl an, als sie sich erinnerte, in welch sarkastischem Tonfall er sie angewiesen
hatte, alles zu tun, was nötig war, um Andreas für die langen Stunden
festzuhalten, bis die Agenten eingetroffen waren. Du kennst ihn besser als die
meisten. Dir wird schon etwas einfallen.
„Es muss fast Abend sein.“ Andreas' tiefe
Stimme lief ihr wie elektrische Ströme über die Haut. „Was denkst du, wie lange
Roth braucht, bis er hier ist?“
Claire blinzelte, dann schüttelte sie den Kopf.
„Ich weiß nicht, wovon du redest.“
Er antwortete mit einem kalten Lächeln, nicht
überzeugt. „Willst du mir wirklich weismachen, dass du ihn nicht um Hilfe
gebeten und vor mir gewarnt hast?“ Als sie Anstalten machte, es abzustreiten,
kniff er die Lippen zusammen. „Nur damit du es weißt, Claire, ich hoffe, du
hast ihn gewarnt. Ich hoffe, du hast ihn gebeten, so schnell wie möglich
herzukommen, denn ich habe weiß Gott vor, ein Ende zu machen.“
Ihr Blut gefror zu Eis. „Bist du wirklich so
begierig zu sterben, Andre?“
Er stieß ein spöttisches Schnauben aus. „Ich
bin hier nicht derjenige, um den du dir Sorgen machen musst.“
Bernsteinfarbene Funken blitzten in seinen
Iriskreisen auf, und als er sprach, konnte sie die Spitzen seiner scharfen
weißen Fangzähne sehen. Sie erinnerten sie nur allzu deutlich daran, dass seine
Wut, auch wenn sie inzwischen etwas abgeflaut war, jederzeit wieder aufflammen
konnte. Es mochte zwar sicherer sein, ihn anzulügen, aber sie hatte das Gefühl,
dass sie ihm etwas Ehrlichkeit schuldig war, trotz aller Risiken. „Na gut. Ja,
ich habe Wilhelm gewarnt. Ich bin im Traum zu ihm gegangen, als du im Keller
warst, genau wie du gedacht hast. Aber dein fehlgeleitetes Rachebedürfnis wird
noch etwas warten müssen, denn er kommt nicht.“
„Du hast ihm gesagt, dass ich hier bin?“
„Allerdings.“ Claire stand auf, als Andreas
einen Schritt näher auf ihre Bank zukam. „Er ist mein Gefährte. Ich musste ihn
warnen.“
„Du hast ihm von den Feuern erzählt? Von seinem
Dunklen Hafen in Hamburg?“ Als sie nickte, wurden seine Augen schmal. Langsam
kam er näher, drängte sie mit seinem riesenhaften Körper gegen die gepolsterte
Bank, die sich von hinten fest gegen ihre Beine drückte. „Weiß er, dass du ganz
allein mit mir bist, mir völlig ausgeliefert?“
Claire schluckte. „Das weiß er alles.“
Und trotzdem kommt er nicht.
7
Andreas sprach die Worte nicht aus, doch sie
standen ihm deutlich genug ins Gesicht geschrieben.
Claire sah zur Seite, denn plötzlich fiel es
ihr zu schwer, seinem wissenden Blick standzuhalten. Zu ihrer äußersten
Verblüffung spürte sie seine Finger sanft unter ihrem Kinn. Doch als sie seiner
Berührung nachgab und die Augen wieder zu ihm hob, war seine Miene alles andere
als sanft.
„Ist er sich darüber im Klaren, wie gefährlich
es für dich ist, so mit mir allein zu sein, Claire?“
Er sah ihr prüfend ins Gesicht, sein warmer
Atem streifte ihre Stirn. Er stand so nah bei ihr, dass sie das Hämmern seines
Herzschlags spüren konnte, und dieses starke, gleichmäßige Trommeln stellte
auch mit ihrem eigenen Puls irgendetwas an.
Auf einmal spürte sie eine heftige,
unwillkommene Sehnsucht, heiß und wild. Es kostete sie all ihre Willenskraft,
ihre Wange nicht in seine Handfläche zu schmiegen, an seine warmen Finger auf
ihrer Haut.
Das war falsch.
Das war ja Wahnsinn.
Oh Gott... so etwas hatte sie schon so lange
nicht mehr gespürt.
Was nur bewies, dass Andreas recht hatte. So
mit ihm allein zu sein war sehr, sehr gefährlich für sie.
„Wenn du mir gehören würdest“, murmelte er
leise, „würde ich sogar durch die Feuer der Hölle gehen, um dich von einem Mann
wie mir fernzuhalten.“
Claire starrte in seine Augen, in denen es
bernsteinfarben funkelte, unsicher, was sie zu ihm sagen sollte. Was sie denken
sollte. Alles, was sie spürte, war dieses Gefühl, das plötzlich in ihrem
Inneren loderte - ein wachsendes
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