Midnight Breed 06 - Gesandte des Zwielichts-neu-ok-16.11.11
Roths Vene zu
sich genommen hatte? Nicht lange, schätzte er, so jung und stark, wie sie
aussah. Er fragte sich, wie lange es her war, dass sie mit Roth geschlafen
hatte. Hatte sie ihn je geliebt?
Die bitteren Fragen lagen ihm auf der Zunge,
aber er unterdrückte sie. Er wollte nicht wissen, auf welche Art Wilhelm Roth
mit Claire zusammen gewesen war oder vor wie langer Zeit. Sie gehörte nicht ihm,
und er tat besser daran, all seine Gedanken an sie zu verdrängen und sich auf
die einzige Sache zu konzentrieren, die noch für ihn zählte - sein Versprechen
zu halten. Die unschuldigen Opfer zu rächen, die Roth auf dem Gewissen hatte.
War er dazu nicht in der Lage, dann war er zu
nichts mehr nütze, weder für sich noch für irgendjemanden sonst.
Eine Weile fuhr Reichen schweigend, er musste
sich anstrengen, die Tatsache zu ignorieren, dass nur ein kleiner Streifen von
Leder und Plastik ihn von Claire trennte. Wenigstens hatte er in Roths Büro
nicht wieder einen pyrokinetischen Anfall gehabt. Diesen kleinen Segen hatte er
vermutlich Claires Blut zu verdanken. Als er ein paar Straßen von dem Büro
entfernt ihre Not gespürt hatte, waren die Feuer in seinem Inneren sofort
aufgeflammt, aber in der Zeit, die er für den Rückweg gebraucht hatte, um sich
die Agenten vorzunehmen, die ihr wehtaten, war es ihm irgendwie gelungen, die
Flammen am Auflodern zu hindern.
Es war verdammt knapp gewesen.
Obwohl er ihr immer wieder versichert hatte,
dass sie bei ihm in Sicherheit war, wusste er, dass seine zerstörerische Macht
eine sehr reale Gefahr für sie darstellte. Je öfter er sie einsetzte, desto
mehr entglitt sie seiner Kontrolle. Er wusste nicht, wie lange es dauern würde,
bis das Feuer, das in ihm eingesperrt war, völlig außer Kontrolle geriet.
Was mit ihm geschah, kümmerte ihn nicht, aber
wenn die Hitze ihn überwältigte, solange Claire in der Nähe war... Reichen
betrachtete ihr hübsches Profil im milchigen Licht des Armaturenbretts. Sie
hatte den Kopf gesenkt und versuchte, einen losen Faden an ihrem Pullover glatt
zu ziehen. Sie konzentrierte sich auf den kleinen Makel, zwirbelte den Faden
zwischen ihren schlanken Pianistinnenfingern, ihr offenes ebenholzschwarzes
Haar wehte leicht im warmen Luftstrahl aus dem Lüftungsschlitz der Klimaanlage.
„Wovor hat er Angst?“, murmelte sie. Sie sah zu
ihm hinüber, jetzt mit gerunzelter Stirn. „Was ist es, das Wilhelm unbedingt
vor dir schützen will?“
Reichen schüttelte den Kopf. „Ich weiß es
nicht, und ehrlich gesagt ist mir das auch egal. Es interessiert mich nicht,
warum er tat, was er getan hat. Mich interessiert nur noch eins: Er muss
bezahlen.“
Sie drehte sich in ihrem Sitz zu ihm, ein
hartnäckiger Argwohn glänzte in ihren dunklen Augen. „Er fühlt sich von dir
bedroht, Andreas. Nicht wegen irgendetwas, das in den letzten beiden Nächten
geschehen ist, sondern schon vorher.
Warum würde er sonst zu einer so drastischen
Maßnahme greifen wie einem Überfall auf deinen Dunklen Hafen?“
„Ich schätze, ihm hat nicht gefallen, dass ich
in seinen Angelegenheiten herumgeschnüffelt habe. Er dachte wohl, dass er mir
einen Denkzettel verpassen muss.“
Claire nickte grimmig. „Und was dachte er wohl,
was du herausfinden würdest? Ich kann nicht glauben, dass es irgendetwas mit
diesem verschwundenen Mädchen aus dem Club zu tun hatte. Dafür ist ein solcher
Vergeltungsschlag, wie du ihn beschrieben hast, einfach unverhältnismäßig.“
„Du glaubst mir also?“, fragte er.
Sie sah ihn mit einem ehrlichen, unverwandten
Blick an. „Ich will dir nicht glauben, aber nachdem ich heute Nacht mit Wilhelm
geredet habe... Es fällt mir jetzt schwerer, an deinen Worten zu zweifeln, als
ihm auch nur noch ein Wort zu glauben. Du hast ihm Angst gemacht, Andre. Er hat
immer noch Angst davor, was du wissen oder ihm antun könntest. Die Frage ist
nur, warum? Was schützt er... oder wen?“
Bei Claires Worten bildete sich in Reichens
Eingeweiden ein eiskalter Klumpen. Er hatte sich nie gefragt, warum Roth es so
sehr auf ihn abgesehen hatte. Er hatte immer angenommen, dass es eine
Kombination von alter Feindseligkeit und neuer Gelegenheit gewesen war, als
Reichen Helene unwissentlich in Roths Fadenkreuz geschickt hatte.
Die Frage nach dem eigentlichen Grund war ihm
nicht wichtig erschienen. Nicht nach dem Gemetzel, als Wut und Kummer ihn
beherrscht hatten.
Seine Wut und sein Verlangen nach Rache hatten
ihn blind gemacht. Er hatte nie innegehalten, um
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