Midnight Fever: Verhängnisvolle Nähe (German Edition)
in sich zusammen. Bud sah weg, halb aus Taktgefühl, halb aus Ergriffenheit.
Er las die Titel auf den Buchrücken und betrachtete Familienporträts, während er darüber nachdachte, wie er sich bei der sterbenden Claire am Bett gefühlt hätte. Er wartete, bis Parks still geworden war, und wandte sich ihm dann zu. »Keiner sieht gern jemanden leiden, den er liebt.« Etwas Tröstlicheres fiel ihm nicht ein.
»Nein.« Parks schnäuzte sich in ein Taschentuch von der Größe einer Tischdecke. Er klang heiser und den Tränen nahe. »Ich schäme mich entsetzlich. Ich hoffte, sie würde sterben, damit die Qual endlich vorbei wäre. Zum Glück ist Claire viel stärker als ich. Sie überlebte die Nacht und auch die nächsten Nächte. Sie bestand darauf, eine neue Knochenmarkstransplantation durchführen zu lassen, mit einem Versuchsprotokoll. Wir waren alle überrascht, als die glückte. Und dann – dann wurde sie entführt.« Er drehte den Kopf zu Bud, Tränen in den Augen. »Dank Ihnen dauerte es nur ein paar Stunden. Sie haben den Kerl geschnappt und wurden dabei angeschossen.«
Bud machte eine wegwerfende Geste. Horace Parks war im Begriff, ihm etwas Wichtiges zu sagen. Dagegen war Claires Befreiung ein alter Hut.
Parks schwieg für einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen. »Nach der … Episode mit Gavett habe ich Claire in die Schweiz geschickt, wo sie die nächsten fünf Jahre praktisch in einem Gefängnis lebte. Sie las sehr viel und lernte Französisch und Deutsch. Sie holte in ihrem Schulwissen auf, überflügelte ihre Altersgenossen und absolvierte schließlich ein Fernstudium in Bibliothekswissenschaft. Als sie heimkehrte, bestand ich darauf, dass sie hier wohnt und in unserer Stiftung arbeitet. Dort war sie jedoch sehr unglücklich. Das hätte mir auffallen müssen, aber ich wollte es eben nicht sehen. Genauso wenig wollte ich sehen, dass sie sich eine eigene Wohnung wünschte. Sie ist erwachsen und mittlerweile seit fünf Jahren gesund, aber ich behandle sie noch immer wie ein krankes Kind. Vor zwei Wochen bin ich nach Paris gereist. Da hat sie ihre Stelle in der Stiftung gekündigt, sich einen neuen Job besorgt und ein neues Haus gekauft. Es war wie ein Gefängnisausbruch. Dann entdeckte ich, dass sie auch noch einen Liebhaber gefunden hat.«
Bud erstarrte. »Äh, was das angeht, Mr Parks, äh, Horace …«
Parks winkte ab. »Oh, ich habe nichts dagegen, mein Junge. Ich bin nicht prüde. Claire ist eine schöne junge Frau. Sie hätte längst ein Liebesleben haben sollen. Ich denke, sie war noch Jungfrau, nicht wahr?«
Zum ersten Mal in seinem Leben wurde Bud rot; er spürte es.
Dann verblüffte ihn der alte Parks vollends, denn er sagte dasselbe wie Claire. »Ich bin froh, dass Sie es waren, Lieutenant. Da hat sie großes Glück gehabt.« Er stand auf, um sich noch etwas einzuschenken. Offenbar war er ziemlich trinkfest. Schon während des Essens hatte er mehrere Gläser Wein gehabt. Seufzend setzte er sich wieder in den Sessel und leerte das Glas zur Hälfte, wobei er Bud ununterbrochen ansah. Es war still in dem großen halbdunklen Raum. Bud hatte nichts gegen Schweigen und auch nichts gegen die Musterung, der er unterzogen wurde. Der alte Mann dachte über etwas nach und würde es schon aussprechen, sobald er dazu bereit war.
»Ich erzähle Ihnen das alles aus einem bestimmten Grund«, sagte er schließlich. »Ich bin ein alter Mann, Lieutenant. Alles in allem habe ich ein sehr gutes Leben gehabt, aber es geht langsam zu Ende, das spüre ich in den Knochen. Nein …« Er hob die Hand, als Bud widersprechen wollte. »Keine Plattitüden, bitte. Wir alle müssen früher oder später sterben. Das beunruhigt mich nicht.« Er schob seinen Sessel näher an Buds heran, was ihm offensichtlich Mühe bereitete. »Nein, mir liegt etwas anderes auf der Seele. Nämlich dass Claire nach meinem Tod allein zurückbleiben könnte, ohne Schutz. Sie ist eine hochintelligente Frau, liest in einem Jahr mehr Bücher als Sie und ich in unserem ganzen Leben. Aber in anderer Hinsicht ist sie völlig ahnungslos; ein normaler Mensch kann das nur schwer verstehen. Sie hat in einer behüteten, isolierten Welt gelebt, zuerst in der, die meine Frau und ich ihr geschaffen haben, dann in der, die die Krankheit ihr aufgezwungen hat. Sie hat keine Vorstellung von der Schlechtigkeit dieser Welt. Sie ist nie mit schlechten, grausamen Menschen in Berührung gekommen. Sie hat keine Menschenkenntnis. Ich fürchte, in der Hinsicht
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