Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
Heaven’s Gate nannte. Die Körper der Toten waren sorgfältig aufgebahrt, die Gesichter mit lila Tüchern bedeckt, die Füße mit nagelneuen Turnschuhen der Marke Nike bestückt. Alle Mitglieder der Sekte waren freiwillig und friedlich gestorben, um in einem Paradies weiterzuleben. Ihre Überzeugungen und ihre Absichten hatten sie ausführlich auf Video festgehalten. Der zu dieser Zeit gut sichtbare Komet Hale-Bopp kündigte angeblich ihr Fahrzeug ins Paradies an. Im Gefolge des Kometen war, wie sie zu wissen glaubten, ein gigantisches Raumschiff zu ihnen unterwegs, um sie an den neuen Ort und in eine andere gewünschte Existenz zu bringen. Voraussetzung dafür war allerdings, dass sie sich von ihrem irdischen Ballast befreit haben mussten.
Einige Wochen vor der Selbsttötung hatten einige Sektenmitglieder in einem Fachgeschäft ein Hochleistungsteleskop gekauft, um den Kometen, der noch weit entfernt war, und das ihn begleitende Raumschiff besser sehen zu können. Schon nach einigen Tagen brachten sie ihr Teleskop wieder zurück und verlangten auch ihr Geld wieder. Ihre Begründung: Das Teleskop tauge nichts, weil man das Raumschiff nicht erkennen könne. Wenn ein teures Teleskop das nicht zustande bringe, könne es nichts taugen und müsse defekt sein. [112]
Nachbarn, die Kontakt mit den Anhängern von Heaven’s Gate hatten, schildern sie als angenehme, vernünftige und intelligente Menschen. Viele waren als Programmierer beschäftigt und kannten sich mit modernen Technologien, Computern und dem Internet bestens aus. Ach ja: Das Raumschiff hinter Hale-Bopp traf niemals in Kalifornien ein.
Wir besuchen andere, um zu sehen, wie man dort tote Gäule reitet! (Benchmarking)
Es ist kaum zu vermeiden, dass wir ständig Entscheidungen treffen und danach oft damit beschäftigt sind, diese Entscheidungen zu rechtfertigen. Die Rechtfertigung beschäftigt uns dann besonders, wenn wir unsere Entscheidungen nicht mehr zurücknehmen können oder auch nur glauben, sie nicht mehr zurücknehmen zu können.
In einer Entscheidungssituation sollte man daher mit niemandem reden, der gerade eine ähnliche Entscheidung getroffen hat. Vor allem sollte man sich von dieser Person keine Ratschläge geben lassen oder Entscheidungshilfen erwarten. Warum? Der Ratgeber wird uns mit einer hohen Wahrscheinlichkeit von der Richtigkeit dieser Entscheidung überzeugen wollen. Er wird uns nur Informationen liefern, die diese Entscheidung bestätigen. Er befindet sich ja selbst gerade in der Phase der Selbstrechtfertigung. Wenn man sich also bei anderen umsieht, die ebenfalls tote Gäule reiten, wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit Zuspruch und Aufmunterung zum Weiterreiten erhalten.
Null-Fehler-Toleranz-Kulturen hält man am Leben, indem man Fehler nicht nur übersieht und schönredet, sondern am besten gar nicht erst existieren lässt. Man ist dann sogar von der Anstrengung des Übersehens entlastet. Das gelingt am besten gemeinsam. Die soziale Gruppe, der wir uns zurechnen oder die Kultur, der wir angehören, hat nicht nur einen großen Einfluss darauf, wie wir glauben oder was wir glauben, sondern auch darauf, wie wir wahrnehmen und was wir sehen, ja, ob wir überhaupt etwas sehen.
Das ist nichts Neues und spätestens seit den klassischen Experimenten von Solomon Asch aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts bekannt. [113] Er zeigte, wie eine einfache Wahrnehmungsaufgabe, die kinderleicht zu lösen ist, zu falschen Antworten führt, wenn andere Personen die Aufgabe auch falsch lösen. Der soziale Druck beeinflusst die Antworten, die gegeben werden, selbst wenn sie eindeutig falsch sind.
Inzwischen wurde das Experiment wiederholt. [114] Nun wurden aber auch die Hirnaktivitäten der Versuchspersonen während der Bearbeitung der Aufgabe gemessen. Die Ergebnisse der Messungen zeigten ansteigende Aktivität in dem Teil des Gehirns, der für räumliche Wahrnehmung verantwortlich gemacht wird. Dagegen zeigte sich keine Aktivität in dem Teil, der für höhere Denkvorgänge wie bewusste Entscheidungsfindungen oder Konfliktlösungen verantwortlich ist. Die Versuchspersonen haben also ihre Antworten gegeben, so wie sie ihrer Wahrnehmung entsprachen. Die Antworten, die andere gaben, führten zu einer Veränderung der Wahrnehmung, einer Veränderung dessen, was gesehen wurde.
Soziale Kontexte, Gruppen, Teams, Organisationen, Kulturen verändern nicht nur Beurteilungen, sondern bereits die Wahrnehmungen. Wir sehen die Dinge so, wie
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