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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Retzer
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habe. Kaffee? Ein Kaffee wäre nicht schlecht! Ob ich mal eine Kaffeepause mache? Nein, das geht nicht! Schlag dir das aus dem Kopf! Du musst lernen! Die Biochemieklausur! 60%! Ich führe ständig einen Kampf mit mir selbst und habe das Gefühl, ich kann diesen Kampf nicht gewinnen. Ich spüre den Druck, den mir mein Teilstudienplatz macht – nur bis zum Physikum ist mir mein Studienplatz gewährt. Ich spüre den Druck der Frage, was wohl aus mir werden soll, wenn das nichts wird mit dem Medizinstudium wegen der Biochemieklausur. Dieser Druck blockiert mich. Um dem Druck standhalten zu können, müsste ich ihn loswerden. Ich brauche Stille und Konzentration in meinem Kopf, wenigstens für die nächsten drei Wochen.
    Jetzt dachte ich wieder an Philadelphia und Ritalin ® . Ich hatte kürzlich in einer Zeitung gelesen, Ritalin ® sei die neue Modedroge unter Studenten, weil sie sich damit besser konzentrieren könnten. In den USA sei jeder vierte Student, aber auch jeder fünfte Professor auf Ritalin ® . Beim Weiterlesen wurde ich immer ruhiger. Ich muss mich meiner Gedanken nicht schämen. Ich bin keineswegs allein: Rund zwei Millionen Bundesbürger dopen sich am Arbeitsplatz mit leistungsfördernden Mitteln [126]   , und die Verordnungen von Ritalin ® sind in zehn Jahren um mehr als das Zehnfache gestiegen, nämlich von 5000000 Tagesdosen im Jahre 1998 auf 53000000 Tagesdosen im Jahr 2008. [127]   Dabei sind die nicht verordneten, aber dennoch konsumierten Tagesdosen noch gar nicht mitgerechnet.
    Wenn Ritalin ® so vielen hilft, warum dann nicht auch mir? Ich will es haben, sofort! Eine Bekannte, deren Vater Arzt ist, besorgt mir eine orangefarbene Pappschachtel: Ritalin ® 10 mg. Zwar habe ich auch gelesen, dass Ritalin ® meine Gefühle einengen kann, dass ich zu nichts mehr Lust haben könnte, auf was ich jetzt noch Lust habe, dass meine Neugier und meine Kreativität eingeschränkt oder gar nicht mehr vorhanden sein könnten. Was soll’s? Ich stehe vor der Wiederholungsklausur in Biochemie. Ich brauche 60% richtige Antworten. Was interessiert mich meine Befindlichkeit oder gar Kreativität? Wenn ein gefühlloser Roboter die Klausur schafft, dann will ich ein Roboter sein!
    Ich nehme also die erste Pille. Die Wirkung lässt nicht lange auf sich warten: Ich bin tatsächlich konzentriert. Ich lese, obwohl im Nebenzimmer meiner Wohngemeinschaft AC/DC in voller Lautstärke »Highway to hell« zum Besten gibt. Ich höre es nicht. Nein, ich höre es schon, sonst wüsste ich ja nichts davon, aber es interessiert mich ganz einfach nicht und kommt nicht an mich ran. Ich lese weiter.
    Der nächste Tag wird noch besser: Ich sitze wieder in der Bibliothek vor meinen Biochemiebüchern. Nichts lenkt mich mehr ab. Ich schaue nicht einmal mehr aus dem Fenster und auf das, was sich da draußen abspielt. Ich habe nur noch einen Blick für die Biochemie. Und so geht es vier Stunden ununterbrochen weiter. Ich vergesse die Wiese, andere Studenten, iPads, den Laptop, Kaffee, Pausen …
    Ich gehe dann aber doch in die Mensa. Ich weiß nicht, welches Gericht ich wählen soll. Aber ich habe eigentlich auch keinen Appetit. Abends auf dem Nachhauseweg hole ich mir Geld aus einem Geldautomaten. Morgen muss eingekauft werden. Ich bin genervt, dass der Automat so langsam ist und trete dagegen. Das habe ich noch nie gemacht.
    Irgendwie habe ich aber doch das Gefühl, etwas zu tun, was nicht ganz in Ordnung ist. Ich beichte meiner Freundin, dass ich Ritalin ® nehme und was dabei mit mir geschieht. Statt der erwarteten Vorwürfe fragt sie, ob ich ihr etwas abgebe, sie habe schließlich in der kommenden Woche eine schwere Zwischenprüfung. Sie studiert BWL. Ich gebe ihr nichts ab, schließlich müssen meine Pillen bis zur Klausur reichen.
    Meine Bedenken sind immer noch nicht ganz verschwunden. Ich lege pillenfreie Tage ein. Diese Tage sind alles andere als erfreulich. Ich bin kaum leistungsfähig. Schon das Lesen einer einzigen Seite ist fast nicht zu bewältigen. Die pillenfreien Tage werden abgesetzt.
    Der Klausurtermin rückt näher. Ich will nichts falsch machen und meine Wiederholungsklausur nicht gefährden. Ich frage deshalb beim Studiendekanat der Medizinischen Fakultät nach, ob Ritalin ® gegen die Prüfungsordnung verstoße. Ich erhalte folgende beruhigende Information: Wenn derjenige, der sich mit Ritalin ® dopt, nicht auffällig wird, kann er die Klausur schreiben. Wenn er aber andere durch sein Verhalten stört und

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