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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Retzer
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deren Klausur gefährdet, muss er von der Klausur ausgeschlossen werden. [128]  
    Am Tage meiner Klausur gehe ich in den Prüfungsraum, setzte mich und will ganz offen dopen. Ich habe ja die offizielle Erlaubnis von der Medizinischen Fakultät bekommen. Die orangefarbene Pappschachtel liegt vor mir auf dem Tisch: Ritalin ® 10 mg.
    Bei der Tour de France würde ich jetzt auf der Stelle verhaftet. In der anschließenden Pressekonferenz würde ich dann von böswilligen Unterstellungen sprechen und davon, dass mir jemand in krimineller Absicht die Packung Ritalin ® auf dem Tisch platziert hätte oder, noch besser, dass es sich hier um ein leicht aufzuklärendes Missverständnis handle, da ich krank (ADHS) bin und mich nur der notwendigen Behandlung unterziehe.
    Wie auch immer: Bei der Tour de France wäre ich verhaftet worden, bei der Biochemieklausur meines Medizinstudiums aber darf ich das. Ich schlucke also eine Pille und mache fleißig meine Kreuzchen, ohne aufzublicken. Nichts sonst existiert um mich herum außer der Klausur und den Kreuzchen. Ich schaffe 70% richtige Kreuzchen. Richtig freuen kann ich mich aber nicht, denn das war meine vorläufig letzte Pille. Danach bin ich nicht nur zu gar nichts mehr in der Lage, noch nicht mal zu dem analphabetischen Minimalprogramm irgendwelcher Kreuzchen, sondern habe auch noch ausgesprochen schlechte Laune.«

Wer bin ich? Wie ist die Stimmung? Die Ich-AG und der Geschäftsklimaindex – eine Selbsterkundung
    Seit 1991 kürt die Gesellschaft für Deutsche Sprache in jedem Jahr das Unwort des Jahres. Die Auswahl ist moralisch und kritisch motiviert. Unschöne und unerwünschte Wörter unseres Sprachgebrauchs sollen identifiziert werden, Formulierungen, die sachlich grob unangemessen sind oder die Menschenwürde verletzen, sollen gebrandmarkt werden. Unwörter der vergangenen Jahre waren etwa: alternativlos (2010), notleidende Banken (2008) und Humankapital (2004).
    Bei aller vielleicht berechtigten ästhetischen oder moralischen Kritik an den Unwörtern der vergangenen Jahre – sie geben gesellschaftlichen Stimmungen, Vorstellungen und Überzeugungen einen Namen. Die Unwörter sind Begriffe, die das Begreifen erleichtern. Will man sich ein Bild unserer gesellschaftlichen Verfassung machen, kommt man um die Unwörter nicht mehr herum.
    2002 wurde die Ich-AG zum Unwort des Jahres gewählt. Eine gute Wahl! Sie bringt aktuelle Stimmungen und Vorstellungen präzise auf den Punkt:
    »Das Verständnis der eigenen Person als Aktiengesellschaft. Der Begriff bezeichnet den entscheidenden sozialen Wandel zur Jahrtausendwende. Menschen sehen sich verstärkt als Lebensunternehmer, die Eigenverantwortung statt Fremdverantwortung wählen. Diese Entwicklung geht mit dem ökonomisch erzwungenen Rückzug des Staates aus einem flächendeckenden Sicherheitsnetz einher. Weiterhin befördert die Transformation der Arbeitskultur […] das Selbstverständnis als Ich-AG. Dazu gehört vor allem, […] permanent am Kurswert der eigenen Person zu arbeiten.« [129]  
    Zum ökonomischen und gesellschaftlichen Selbstverständnis gehört aber auch der sogenannte Geschäftsklimaindex. Er wird monatlich vom Institut für Wirtschaftsforschung (ifo) erstellt und soll Stimmungen und Geschäftserwartungen ermitteln. Ist die Stimmung gut, gilt das als verlässliches Zeichen dafür, dass es auch mit den Geschäften gutgehen kann. Ist die Stimmung dreimal hintereinander gut, wird alles (wieder) gut.
    Die Herausforderung besteht darin, den (Geschäfts-)Erfolg zu sichern und gute Stimmung zu erzeugen. Einerseits sind deshalb Maßnahmen notwendig, die das Scheitern verhindern und den Erfolg sicherstellen, und andererseits braucht es Maßnahmen, um im Fall des Scheiterns trotzdem gute Stimmung zu erzeugen und sicherzustellen.
    Moderne Menschen, die sich selbst als Ich-AG begreifen, können nun mit der Eingriffstechnik des chemischen Dopings selbst Hand an sich anlegen, um optimal aufgestellt zu sein: Doping, um nicht zu scheitern und daher erst gar keine miese Laune haben zu müssen. Doping, nachdem man doch gescheitert ist, um die miese Laune wieder zu vertreiben.
    Diese Art von Selbststeuerung und Selbstoptimierung zielt auf das, was wir für unser Steuerungsorgan halten: unser Gehirn. Eine Bereicherung dessen, was wir schon länger auch ohne Chemie versucht haben. Die sogenannte Selbstmanagementliteratur ist voll davon. So will das gut verkäufliche Produkt des »Neurolinguistischen Programmierens« etwa

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