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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Retzer
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Psychiater und bin in Psychotherapie. Wir fangen an, mein gesamtes Leben aufzuarbeiten – ich hatte als Mittzwanzigerin Magersucht, und schon viel früher hatte ich einen ähnlichen Grübelzwang wie heute. Wahrscheinlich habe ich das alles nie wirklich aufgearbeitet. Die Magersucht habe ich damals durch ›wieder essen‹ überwunden – doch es ist ja eine Sucht, die wahrscheinlich jetzt ein anderes Ventil sucht … Ich weiß es nicht, Fragen über Fragen, keine Antworten, dauernde Zweifel an mir und dem, was ich ›vielleicht‹ will. Es ist, als habe ich mich verloren. – Vielleicht finde ich mich aber auch erst jetzt. Ich nehme zunächst Johanniskraut – manchmal hilft’s, zumindest weine ich dann nicht ständig. An Antidepressiva trauen wir uns nicht so recht, da mein Puls eh nur bei ca. 50 Schlägen liegt und die die Herzschlagfolge ja noch mehr drücken. Im Moment bin ich kurz vor meiner Regel – da ist es besonders schlimm. Mit der Therapie geht es nur langsam voran – ich hatte erst drei Termine, und der nächste ist erst am 13. Jan. Manchmal verliere ich die Hoffnung, je wieder aus diesem Loch zu kommen, und ich habe Angst, den Traum von meiner Familie aufgeben zu müssen. Ich habe so viele Gedanken und weiß nicht mehr, welche wahr sind und welche nicht!« [194]  

Wie man Depressionen zur Nachhaltigkeit verhilft
    Die miese Stimmung bekämpfen: Aufmuntern, Optimismus verbreiten, Hoffnung vermitteln!
    Frau Müller fühlt sich seit vielen Monaten niedergedrückt. Sie bewältigt ihren Alltag nur mit großer Anstrengung und hat sich deshalb aus vielen Aktivitäten zurückgezogen und ihre sozialen Kontakte deutlich reduziert. Sie isoliert sich immer mehr. Ihre Freundin Karin ist ihr geblieben. Sie hält ihr die Treue und lässt sich nicht abschrecken. Wenn sie zu Besuch kommt, versucht sie Frau Müller aufzuheitern: Nur nicht über Negatives reden oder das Gespräch darauf lenken! Stattdessen hat sie Vorschläge für ihre Freundin mitgebracht. Etwa so: Jetzt, wo der Frühling alles in frisches Grün verwandelt und die Tage wieder länger werden, sollten wir einen Ausflug machen. Was meinst du? Ich habe schon mit meinen Frauen vom Kirchenchor gesprochen, die kämen auch mit. Außerdem täte dir Bewegung wirklich gut. Ich jogge ja zwei Mal die Woche, ich könnte dich übermorgen abholen. Du wirst sehen, wie gut du dich danach fühlst! Karin hat noch weitere gut gemeinte Aufmunterungsvorschläge, die Frau Müller geduldig über sich ergehen lässt. Aber verstanden fühlt sie sich nicht: Wie naiv und ahnungslos, diese schauerliche Leere, diese grenzenlose Erschöpfung und Ausweglosigkeit durch Ausflüge und Jogging vertreiben zu wollen!
    Die Optimismus verbreitenden Vorschläge bewirken das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigen. Sie unterschätzen und verharmlosen den Zustand, unter dem Frau Müller leidet. Es ist, als spreche man ihr die Berechtigung ab, sich so zu fühlen, wie sie sich nun einmal fühlt. Frau Müller fühlt sich angegriffen und tut daher das Naheliegende: Sie verteidigt sich und ihren Zustand. Sie tut dies, wie es der depressiven Stimmung entspricht: nur leise klagend, aber umso leidender. Die Bemühungen der Freundin führen nur dazu, dass sich die Stimmung noch weiter verschlechtert.
    Wie geht es aber mit Frau Müller und ihrer Freundin Karin weiter? Wie zu erwarten, findet weder die lustige Kaffeefahrt noch das fröhliche Jogging statt. Dafür trübt sich nun die Stimmung bei Karin ein: Sie zweifelt an ihren Fähigkeiten, der Freundin zu helfen. Die Kontakte werden seltener, das schlechte Gewissen nimmt zu, ebenso wie Karins Ratlosigkeit. Sie glaubt, versagt zu haben, und das bekommt der Stimmung schlecht.
    Nicht nur beste Freundinnen neigen zu gutgemeinten Ratschlägen im Kampf gegen die Depression. Auch Menschen, die professionell mit der Betreuung und Behandlung von Depressiven betraut sind, tappen oft in diese Falle. Ganze Institutionen werden zu Aufmunterungsanstalten, mit mäßigem Erfolg, aber nachhaltig katastrophalen Konsequenzen für die professionellen Aufmunterer. Denn nach den anfänglich noch größenwahnsinnigen Anstrengungen lässt das quälende Gefühl des Versagens nicht lange auf sich warten, wenn der Erfolg ausbleibt. Dem Depressiven ist nicht geholfen, aber der Klub der Niedergedrückten hat sich um neue Mitglieder erweitert.
    Einfühlung ohne Grenzen
    Eine weitere Möglichkeit, zur Verfestigung von Depressionen beizutragen, besteht darin, die Welt und

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