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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Retzer
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Rabattmarkenbücher angesammelt für ihre Benachteiligungen und unerfüllten Ansprüche, für all das, was schlechte Menschen und das Leben selbst ihr vorenthalten haben.
    Inzwischen leidet sie an einer Depression. Sie fühlt sich schon am Morgen vor dem Aufstehen erschöpft und findet nachts keinen Schlaf, weil sie in Gedanken immer wieder ihre vielen dicken Rabattmarkenbücher durchblättert. Ihre Ärztin nennt das Grübeln. Ihr Leben besteht vor allem aus Anklagen, gleichzeitig weigert sie sich, positive Erlebnisse als solche zur Kenntnis zu nehmen. Die sozialen Kontakte mit anderen Menschen verkümmern immer mehr. Es macht anderen offensichtlich keinen Spaß, immer nur ihre Klagen anzuhören. Frau Hillens Leben besteht aus vergangenem, vorenthaltenem Leben, aber aus keinerlei offener Zukunft.

    Frau Hillen und viele andere Menschen übersetzen erlebte Kränkungen und empfundenes Leid in Anklage und besetzen auf diese Weise die Stelle des unbeugsamen Tugend-wächters der Norm, die andere verletzen. Zukünftig kann jede denkbare Entwicklung, Reaktion und Erfahrung als Bestätigung des eigenen moralischen Werturteils gewertet werden. Wenn jemandem unterstellt wird, er sei böse, hat er zwar mehrere Möglichkeiten, aber keine Chance. Verhält er sich übervorteilend, abweisend oder fordernd, bestätigt er das vorhandene negative Fremdbild; ist er hingegen freundlich, zuvorkommend und hilfsbereit, so tarnt er sich nur, denn er ist ja in Wirklichkeit böse. So oder so muss er weiterhin als ein Böser behandelt werden – bis er irgendwann wirklich böse wird und man sich »zufrieden,« d.h. wieder übervorteilt, aber bestätigt, fühlen kann. Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten schränken sich ein. Man ist zwar bestätigt, aber niedergedrückt und reduziert: eben depressiv.

Forever young
    Es gibt so manches, was wir vielleicht gern für immer behalten würden. Aber leider ist die verlässlichste Konstante in unserem Leben die Veränderung. Mit der Zeit verändern sich unser Leben und wir uns selbst. Zwar soll die Zeit Wunden heilen, aber sie schlägt auch welche, und dass nicht alles so bleibt, wie es ist, erfahren wir alle.
    Erinnern Sie sich nur an einen zweiwöchigen Urlaub. Vermutlich haben Sie auch schon die Erfahrung gemacht, dass sich die erste Urlaubswoche auf eine merkwürdige, aber deutliche Weise von der zweiten unterscheidet. Die ersten Tage des Urlaubs scheinen Ihnen unendlich lange. Sie enden fast nicht. Sie haben den Eindruck, dieser Urlaub wird wahrscheinlich nie zu Ende gehen.
    Plötzlich, wie von Geisterhand, verändert sich mit Beginn der zweiten Urlaubswoche fast alles. Die Tage vergehen immer schneller. Von einem unendlichen Urlaub kann keine Rede mehr sein. Wird man es überhaupt schaffen, noch einmal an diese wunderbare Bucht zu kommen, die man in der ersten Woche entdeckt hat? Noch einmal dieses herrliche Restaurant aufzusuchen, in dem man den vielleicht besten Fisch seines Lebens genossen hat? Die Zeit beschleunigt sich plötzlich auf eine in der ersten Woche kaum vorstellbare Weise. Die Tage eilen vorbei wie im Flug, und schon steht man ungläubig am Check-in-Schalter des Flughafens. Was ist geschehen?
    Die meisten Menschen nehmen in der ersten Hälfte eines begrenzten Zeitraumes die Ereignisse vom Beobachtungsstandort des Beginns aus wahr. Von dort her wird die Zukunft als fast unendlich erlebt. Das Leben entfaltet sich in einem offenen Raum. In der zweiten Hälfte eines begrenzten Zeitraums nehmen die meisten den Beobachtungsstandort des Endes ein. Nun ist Zukunft begrenzt und endlich. Das Leben verkürzt sich in einem begrenzten Raum, der immer begrenzter wird, von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute. Es ist die Zeit des Verlustes.
    Wir sind alle in unserem eigenen Leben diesen Veränderungsprozessen unterworfen, ob wir wollen oder nicht. Das meiste bleibt nicht so, wie es ist oder wie es war. Zum Beispiel bei der Zeitungslektüre kann man das feststellen. Vielleicht hat man als junger Mensch die Lektüre der täglich ins Elternhaus gelieferten Zeitung mit dem Sportteil begonnen oder auf den Sportteil beschränkt. Später beginnt man vielleicht mit dem Politikteil, weil man selbst Politik und das politische Kämpfen für einen wesentlichen Teil seines Lebens hält. Ein paar Jahre später, mehr oder weniger enttäuscht und desillusioniert vom Lauf der Welt, hat man sich vielleicht auf das, was bleibt – die Kunst und die Literatur – konzentriert, und beginnt oder beschränkt

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