Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
sich gar auf das Feuilleton, bis man schließlich bei den Todesanzeigen angekommen ist. Dort interessieren weniger die Sterbedaten als die Geburtsdaten der Gestorbenen. Einerseits ist man erschrocken, dass die Einschläge immer näher kommen, anderseits erleichtert, dass man selbst (noch) nicht dabei ist.
Die zweite Urlaubswoche oder Lebenshälfte hat unweigerlich begonnen. Wir beginnen uns selbst und unser Leben vom Ende her zu betrachten und registrieren, zunächst erschrocken, den Verlust, das Nicht-Mehr.
Die Unsterblichkeit und die Krise in der Lebensmitte
In den Zeiten, als wir noch vom Beginn, das heißt, von der Geburt aus wahrgenommen und erlebt haben, waren die meisten von uns mehr oder weniger davon überzeugt, dass die Sache mit der Sterblichkeit des Menschen ja durchaus stimmt, aber doch eher für die anderen. Man selbst hielt sich für unsterblich. Inzwischen wird einem langsam klar, dass das mit der eigenen Unsterblichkeit wahrscheinlich doch nichts werden wird. Gleichzeitig steht vieles von dem in Frage, was bisher zweifelsfrei und selbstverständlich Grundlage unseres Handelns und unseres Selbstverständnisses war: Immer wieder neu beginnen, Neues erobern, um etwas, meist um Mehreres kämpfen, Gelegenheiten nutzen, gewinnen, aufbauen und investieren, sich einmischen in dies und jenes, Ansprüche entwickeln und Ansprüche energisch verwirklichen.
All das, was über lange Zeit in unterschiedlichen Bereichen mehr oder weniger gut funktioniert hat, scheint nun nicht mehr zu funktionieren. Die bisher gültigen Vorstellungen haben ihre selbstverständliche Gültigkeit verloren. Das ist kein neues Phänomen. Meist wird es als Midlife-Crisis bezeichnet – was etwas ungenau ist, weil diese Krise nicht unbedingt in der Mitte des Lebens auftreten muss. Man weiß ja, bevor man gestorben ist, nicht, was die Mitte des Lebens war. Solche Krisen können im Übrigen mehrfach auftreten und sich in unterschiedlichen Bereichen (Partnerschaft, Familie, Beruf, Körper …) manifestieren. Die Internetblogs sind voll davon:
»Hallo, ich bin 40 und befinde mich seit ca. 4 Monaten in der schlimmsten Krise meines Lebens. Habe das Gefühl, ich muss alles hinschmeißen, ohne einen eigentlichen Grund zu kennen und ohne zu wissen, wohin … Ich bin seit 10 Jahren verheiratet und habe eine 5-jährige Tochter. Meinen Mann kenne ich seit 25 Jahren – wir waren sozusagen unsere ersten großen Lieben. In den ersten 15 Jahren unserer Beziehung, vor unserer Hochzeit, waren wir einige Male getrennt – jedoch nie lange. Er hatte eine andere kurze Beziehung, ich eine kleine Liebschaft. Dann haben wir geheiratet, und ich würde sagen, unsere Liebe wurde immer schöner. Vor drei Jahren hatte mein Mann eine große Krise und wir standen fast vor der Trennung – er fühlte sich mit allem überfordert: Kleinkind zu Hause, fordernde Ehefrau, fordernde Eltern, Haus, anspruchsvoller Job. Ich habe ihm damals alle Liebe gegeben und stark an uns geglaubt, habe losgelassen, und so kam mit der Zeit alles wieder ins Lot – noch mehr: Es begann eigentlich die schönste Zeit in unserem Leben, und ich fühlte mich unendlich glücklich, da ich liebte und wiedergeliebt wurde – alles war perfekt. Seit April 2008 bin ich wieder halbtags berufstätig, und nur wenige Wochen später merkte ich, dass ich immer unzufriedener wurde und dies an meinem Partner ausließ. Darüber begann ich nachzugrübeln. Im August fuhren wir in den Urlaub, ich war sehr angespannt, wurde kurz vorher noch mit einem Magen-Darm-Virus krank, habe die Woche vorher noch täglich gearbeitet, hatte noch zwei Familiengeburtstage – kurzum: Alles war irgendwie zu viel, und seit einem kleinen Streit mit meinem Mann stecke ich in der Krise. Habe mich gefragt, ob ich alles noch will, ob ich ihn noch liebe, ob alles nur noch Gewohnheit ist … Meine Gedanken drehen sich im Kreis, ich weiß nicht mehr ein und aus und habe das Gefühl, das Kostbarste, was ich je besessen habe, verloren zu haben: Die Harmonie in meiner Familie, ein liebevoller Partner mit einer tollen Tochter … alles scheint mir nicht mehr wichtig zu sein – ich weiß nicht mehr, was ich will –, doch eigentlich möchte ich nur mein altes Leben zurück. Es gibt Tage, da will ich nur noch weg, um etwas zu bewegen und zu erfahren, ob es mir dann besser geht; dann weine ich nur noch und bin hoffnungslos und habe Angst, dass es nie wieder so wird wie früher: Mein Leben war schön! Ich war inzwischen beim
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