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Mieses Karma

Titel: Mieses Karma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Safier
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Weges durch riesig hohe Grashalme hindurch spürte ich, dass wir nun auf Stein krabbelten. Waren wir auf unserer Terrasse?
     Ich spähte umher. Alles sah riesengroß aus: Der Rasen wirkte wie ein Urwald, Bäume schossen so in die Höhe, dass ich ihre
     Blätter gar nicht erkennen konnte, und ein Schmetterling flog vorbei, der so groß wirkte wie ein Jumbojet.
    Schnell fand ich raus, dass ich dank meiner beiden Seitenaugen den Blick fokussieren konnte, ähnlich wie bei einem Fernglas.
     Die Umgebung wirkte dadurch nicht mehr so erschlagend auf mich. Ich konnte sehen, ob ein Grashalm abgeknickt war oder nicht,
     ich konnte die Blätter an den Stämmen deutlich erkennen, und ich registrierte, dass der Schmetterling einen glücklichen Gesichtsausdruck
     hatte. Er genoss seinen Flug im Sonnenschein. Entweder das, oder er hatte von dem Hanf gefuttert, den unser Nachbar heimlich
     in seinem Garten anbaute.
    Um sicherzugehen, dass ich wirklich auf unserer Terrasse war, wandte ich mich vom Rasen ab. Ich drehte mich um. Langsam. Mit
     pochendem Herzen.
    Und ich sah   … unser Haus!
    Nach einer Sekunde der Wiedererkennensfreude setzte ich mich hastig in Bewegung. Ich wollte Lilly sehen. Sofort!
    Doch Krttx krabbelte mir in den Weg: «Was glaubst du wohl, wo du hinläufst?»
    «Da rein!»
    |59| «Zu den Grglldd?»
    «Grglldd?», fragte ich.
    «Das sind die Wesen, die Futter auf uns fallen lassen.»
    Jetzt musste ich grinsen. Die Ameisen gingen ins Gras und warteten darauf, dass die Menschen Süßigkeiten fallen ließen – Charles
     Darwin hätte gestaunt über diese Evolution.
    «Dahinten», ich zeigte auf das Haus, «gibt es noch viel mehr Futter.»
    «Kann schon sein, dennoch gehen wir da nicht hin.»
    «Warum nicht?»
    «Darum», sagte Krttx und zeigte auf ein Spinnennetz. Es hing genau vor der Terrassentür. Ich verfluchte mich selbst, hatte
     ich doch der Putzfrau noch vor meiner Abreise zum Fernsehpreis gesagt, dass sie erst nächste Woche kommen solle – vor einem
     Kindergeburtstag hat Putzen nun mal keinen Sinn.
    Ich starrte das Netz an, es sah in der Tat bedrohlich aus. Aber ich wollte zu Lilly, egal, ob da eine Spinne war oder nicht.
     Egal, ob sie zehnmal so groß war wie ich – was sie höchstwahrscheinlich war. Nichts konnte mich aufhalten! Meine Sehnsucht
     war einfach zu groß. Ich sah genau hin und stellte fest: «Da ist gar keine Spinne drin.»
    Krttx sah es nun auch.
    «Und dahinter sind Futtermengen, von denen man nur träumen kann.»
    Krttx wurde unsicher.
    «Ich geh hin», sagte ich entschlossen und krabbelte los.
    «Wir gehen mit», befahl Krttx. Die anderen Ameisen folgten ihr zitternd, und man merkte ihnen an: Wäre es basisdemokratisch
     zugegangen, hätten sie anders entschieden.
    Unser Trupp näherte sich dem Spinnennetz. Es roch modrig, |60| die Gitterfäden wehten im leichten Wind hin und her. So ein Ding von nahem zu sehen, aus der Ameisenperspektive, erweckte
     Ehrfurcht, mit der Betonung auf «Furcht». Das Alarmsignal in meinem Kopf ging wieder los, und ich sah den anderen Ameisen
     an, dass es ihnen ähnlich ging – alle wollten schnell weg.
    Dem Himmel sei Dank war die Spinne wirklich nicht daheim, und so erreichten wir sicher die Türschwelle und krabbelten ins
     Haus.
    Kein Mensch war zu sehen, dafür war eine Tafel aufgebaut, gedeckt mit Kuchen und Gebäck. Was sollte die? Der Geburtstag war
     doch vorbei. Warum gab es neuen Kuchen?
    «Du hast nicht zu viel versprochen», sagte Krttx und lächelte mich an. Ich wusste bis dahin gar nicht, dass sie zu einem Lächeln
     fähig war.
    Ich hörte, wie die Haustür aufging und Alex sagte: «Kommt herein!» Seine Stimme klang wie Donnerhall, meine Fühler vibrierten.
     Ich hoffte, dass man das Gehör ähnlich justieren konnte wie die Augen. Und ich hoffte zu Recht.
    «Es gibt Kaffee und Kuchen», hörte ich Alex nun in normaler Lautstärke. Er näherte sich dem Wohnzimmer. Ihm folgten mehrere
     Fußschritte.
    «Grglldd!», riefen die Ameisen panisch durcheinander und rannten weg. Nur ich blieb stehen und sah, wie Alex das Wohnzimmer
     betrat. Er hatte einen schwarzen Anzug an. Da war mir klar, was die Kuchentafel bedeutete: Es war mein Leichenschmaus.

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    |61| 12.   KAPITEL
    Wenn man erfährt, dass man tot ist, ist das hart. Aber erst wenn es auch andere wissen, wird es zur brutalen Gewissheit. Das
     ist so ähnlich wie mit einem großen Leberfleck am Oberschenkel. Seine Existenz ist schon nicht schön, aber erst wenn ihn ein
    

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