Mieses Karma
Liebhaber beim Sex sieht, wird er richtig unangenehm. Nur dass der Tod eine ganze Ecke fieser ist als so ein Leberfleck.
Alex trug keine Krawatte. Er hasste die Dinger. Nicht mal bei unserer Hochzeit in Venedig hatte er eine angezogen. Dabei hatte
ich ihm sogar mit der ersatzlosen Streichung der Hochzeitsnacht gedroht, sollte er keine anlegen. Ich wollte eben eine klassische
Trauung mit allem Drum und Dran, und zum Drum und Dran gehörte auch eine Krawatte am Bräutigam.
Natürlich machte ich meine Drohung nicht wahr: Die Hochzeitsnacht fand doch statt, und sie war wundervoll. Alex küsste meinen
ganzen Körper. Selbst meinen riesigen Leberfleck. Ohne zu stutzen. Alle anderen Männer, inklusive Kohn, hatten bei seinem
Anblick kurz innegehalten – Alex nicht mal eine Zehntelsekunde. Damals liebte er alles an mir. Er war einfach wunderbar.
Alex starrte mit leerem Blick auf die gedeckte Tafel. Er hatte sichtlich um mich geweint, seine Augen waren gerötet. Das wunderte
mich. Und dann wunderte ich mich, dass ich mich wunderte. Wir liebten uns vielleicht nicht mehr, aber immerhin waren wir viele
Jahre glücklich miteinander gewesen. Da war es wohl normal zu weinen.
«Hey, Verrückte», schrie Krttx, «komm her!» Ich blickte mich kurz um und sah, dass der Trupp unter unserem alten |62| Fernsehsessel Deckung gesucht hatte, direkt hinter den Fransen. Ich ignorierte Krttx, denn hinter Alex war mein Chef Carstens
ins Zimmer getreten. Sein luxuriöses Eau de Toilette umwehte meine Fühler.
«Sie hätten ruhig ein paar Kollegen von Kim einladen können», sagte er zu Alex.
«Find ich auch», dachte ich. Ich hätte zu gerne gesehen, wie die um mich weinen.
«Dann hätte ich den ganzen Tag Krokodilstränen vom Boden aufwischen müssen.»
Typisch Alex. Er war ehrlich, direkt, gewissenhaft, liebevoll – er war einfach ein guter Mensch … der einem manchmal mit seiner moralisch wertvollen Art ganz schön auf den Zöppel gehen konnte.
Doch lange Jahre war es toll für mich gewesen, so jemanden an der Seite zu haben. In einer Welt voller Lügen, Intrigen und
falschen Wimpern war er der einzige Mensch, der immer ehrlich zu mir war.
«Ich will nur Menschen hier haben, die Kim wirklich mochten», fuhr Alex fort.
Ich blickte auf die Kuchentafel und zählte lediglich fünf Gedecke. Keine allzu großartige «Menschen, die einen wirklich mochten»-Ausbeute.
Das schockte mich und machte mich traurig.
Als Nächstes betrat meine Mutter das Wohnzimmer. Ihre Hände zitterten, was ein gutes Zeichen war, denn es bedeutete, dass
sie heute noch keinen Alkohol getrunken hatte.
«Setz dich, Martha», sagte Alex freundlich. Er konnte immer nett zu meiner Mutter sein. Ich hatte das nie lange geschafft,
ohne sie anzubrüllen. Mein Rekord liegt bei siebzehn Minuten und dreiundzwanzig Sekunden. Ich hatte mitgestoppt. Es war an
einem Tag, an dem ich mir vorher ganz |63| fest vorgenommen hatte, so lange wie möglich ohne Streit mit ihr auszukommen.
«Mein Flummi», hörte ich Lilly aus dem Flur rufen. Und in der nächsten Sekunde flog ein oranger Gummiball ins Wohnzimmer.
Erst prallte das Geschoss gegen den Tisch, von dort flog es so knapp über meinen Kopf, dass der Wind mich fast umriss, um
schließlich am Sessel einzuschlagen – genau vor den Fransen. Die Ameisen zitterten am ganzen Körper. Ein oranger Flummi sprengte
definitiv ihr Vorstellungsvernögen.
Mir machte er nichts aus. Zum einen fiel es mir schwer, Angst vor einem Flummi zu entwickeln, egal wie groß er war. Und zum
anderen hatte ich nur Augen für Lilly, die ins Zimmer rannte. Sie hatte ihr grünes Lieblingskleid an (Alex hätte sie nie gezwungen,
Schwarz zu tragen), trug ihren Schnuff-Teddy fest an den Körper gepresst, und ihre Augen waren ebenfalls gerötet.
Ich krabbelte sofort auf sie zu, so schnell ich nur konnte. Ich wollte sie in den Arm nehmen. Sie drücken. Sie trösten: «Ich
bin nicht tot! Du musst nicht weinen!»
«Was machst du Irre denn jetzt?», rief Krttx, ihre Stimme von dem Flummi-Erlebnis immer noch etwas zittrig. Und die Frage
war durchaus berechtigt: Ich war eine Ameise. Ich hätte nicht mal Lillys kleinen Zeh tröstend in meine Arme nehmen können.
Völlig fertig blieb ich auf halbem Wege stehen und hätte am liebsten losgeweint. Doch Ameisen hatten anscheinend keine Tränenflüssigkeit.
So konnte ich meinem Seelenleid nicht mal durch Heulen Erleichterung verschaffen. Es zerriss mich im Inneren, und ich
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