Mieses Karma

Krttx in dem gleichen «Das hab ich schon öfter gesehen»-Tonfall wie zuvor.
    Und tatsächlich: Alle Ameisen stürzten sich auf den Flüchtling. Er ging in dem fliegenden Haufen unter und war nicht mehr
     zu sehen. Man sah nur noch eine surrende Wolke, die in Hochgeschwindigkeit um die eigene Achse rotierte.
    Kurz darauf stoben die Jäger wieder auseinander, und aus ihrer Mitte fiel der Flüchtling wie ein Stein Richtung Boden. War
     er bewusstlos? War er tot?
    «Haut ab», schrie Krttx uns an.
    Die Ameisen aus meinem Trupp liefen in alle Himmelsrichtungen. Ich blieb stehen, starrte weiter gebannt auf die fallende Ameise,
     und erst dann realisierte ich, warum alle wegliefen: Sie stürzte direkt auf mich zu!
    Ein elektrisches Stechen schoss durch meinen Kopf. Es war wohl eine Art Alarmsignal der Ameisen, das den Fluchtinstinkt auslöst
     – gemeiner als jeder menschliche Kopfschmerz. Fieser sogar als eine Migräne bei Liebeskummer.
    Mein ganzer Körper befand sich im Fluchtmodus, doch mein Verstand hatte was anderes vor: Wenn die Ameise auf mich prallt,
     bin ich tot. Und wenn ich tot bin, entkomme ich diesem Albtraum.
    Vielleicht.
    Es kam auf einen Versuch an.
    Ich blieb stehen. Das elektrische Stechen im Kopf wurde immer heftiger und wollte mir damit den Befehl geben: Setz verdammt
     nochmal deine stinkenden Beinchen in Bewegung!
    |51| Aber ich widerstand dem Schmerz und krallte mich im Boden fest. So hatte ich meinen Körper nicht mehr überwunden, seit ich
     mit zwölf Jahren bei «Wahrheit oder Pflicht» den dicken Dennis küssen musste.
    «Bist du wahnsinnig?», schrie Krttx und schubste mich aus der Aufprallzone. Eine heldenhafte Tat, bei der sie ihr Leben riskierte.
     Krttx war zwar eine Anführerin, deren Wortschatz zu siebenundachtzig Prozent aus Flüchen bestand, aber sie setzte sich für
     ihre Leute ein. Von welchem menschlichen Vorgesetzten kann man das schon behaupten? Ich jedenfalls hätte nie mein Leben für
     meine Redaktionsassistentinnen riskiert! (Einmal hatte ich mir den Fingernagel abgebrochen, als ich der dicken Sonia – ich
     vermied es, Leute einzustellen, die besser aussahen als ich – half, ihren Ärmel aus dem Papierschredder zu ziehen. Daraufhin
     beschloss ich, in Zukunft die Sonias dieser Welt ihrem Schredderschicksal zu überlassen.)
     
    Aber Krttx’ mutiger Einsatz wäre gar nicht nötig gewesen: Kurz vor dem Aufprall erwachte die fallende Ameise wieder zum Leben.
     Sie flatterte mit den Flügeln, wobei der linke schwer zuckte – er war eingerissen. Das hektische Flattern bremste den Fall
     etwas, aber nicht völlig. Die Ameise machte eine krachende Bruchlandung, genau neben mir, und der Einschlag ließ meine Füße
     vibrieren. Benommen blickte die gestürzte Ameise in meine Richtung, schien mich aber nicht wahrzunehmen. Sie versuchte loszulaufen,
     doch die Beine brachen unter ihrem Körper zusammen. Sie robbte los und stieß dabei einen Schmerzensschrei aus, der mein Herz
     zuschnürte.
    Krttx rief: «Nehmt ihn gefangen!» Die anderen Ameisen aus meinem Trupp stürzten sich auf das arme Wesen. Sie schlugen den
     Flüchtling mit ihren Beinen, bissen ihn mit |52| ihren Kiefern und jaulten dabei kriegerisch – es war ein Gemetzel.
    Ich konnte es nicht ertragen und tat das, was die meisten in so einer Situation tun würden: Ich schaute weg. Ich bedeckte
     sogar meine Augen mit den Beinen, was eine große logistische Herausforderung war, bei fünf Augen und sechs Beinchen.
    Doch ich konnte mein Gewissen nicht ausblenden: Musste ich nicht eingreifen – so wie Alex sich damals in Venedig gegen Grabbel-Salvatore
     mutig für mich eingesetzt hatte?
    Andererseits ging es hier um Ameisen und nicht um Italiener.
    Wiederum andererseits: Würde ich je wieder in einen Spiegel blicken können, wenn ich jetzt nicht half?
    Aber wiederum wiederum andererseits: Als Ameise würde ich wohl nicht mehr in die Verlegenheit kommen, noch einmal in einen
     Spiegel zu schauen.
    Und wiederum wiederum wiederum andererseits: Es war so unerträglich, dass ich es einfach nicht mehr aushalten konnte. Ich
     schrie die Ameisen an: «Ihr Schweine!»
    Die Ameisen machten ungerührt weiter. Höchstwahrscheinlich war «Schweine» in diesem Zusammenhang nicht das bestgewählte aller
     Schimpfworte.
    Also schrie ich noch lauter: «Hört auf. Das ist unmenschlich!»
    «Unmenschlich?», stammelte der Flüchtling. Die Ameisen hämmerten weiter auf ihn ein, aber er schien das nicht mehr wahrzunehmen.
     Er