Mieses Karma
blickte zur Seite: Buddha stand
auf einmal neben mir. Er erschien mir in der Gestalt eines Menschen. Eines außerordentlich dicken Menschen. Und mein ästhetisches
Empfinden hätte es sehr gut gefunden, wenn er sich etwas angezogen hätte.
Besonders untenrum.
«Wenn das hier nicht das Nirwana ist», fragte ich und vermied es, meinen Blick auf die Region unterhalb seines Bauchnabels
fallen zu lassen, «was ist es dann?»
|190| «Nun», antwortete Buddha, «es ist der Vorhof zum Nirwana.»
«Aha», antwortete ich mit einem jener Ahas, die übersetzt eigentlich «Ich verstehe so was von überhaupt nichts» bedeuten.
Buddha hatte wieder sein seliges Lächeln im Gesicht, und ich war mittlerweile fest davon überzeugt, dass es ihm ungeheuren
Spaß machte, den rätselhaften Glückskeks zu geben.
«Dies ist der Ort, an dem ich mit den Menschen spreche, bevor sie ins Nirwana gehen.»
«Ich komm jetzt schon ins Nirwana?»
Buddha nickte.
«Aber ich bin doch noch kein gelassener Mensch, der in sich ruht. Niemand, der in Harmonie mit der Welt lebt und alle Menschen
auf dieser Welt liebt, egal wer oder wie sie sind.»
«Beim Karmasammeln geht es einzig und allein darum, anderen Wesen zu helfen. Und das hast du getan.»
«Aber eine Mutter Teresa war ich nicht gerade …», relativierte ich.
«Das kann ich nicht beurteilen. Für Mutter Teresa war jemand anders zuständig als ich», merkte Buddha an.
Meine Gedanken formten sich in meinem Kopf zu einem einzigen Fragezeichen.
«Das Nachleben ist differenziert organisiert», begann Buddha zu erklären. «Die Seelen der gläubigen Christen werden von Jesus
verwaltet, die der Islamgläubigen von Mohammed und so weiter.»
«Und so weiter …?», fragte ich irritiert.
«Nun, wer zum Beispiel an den nordischen Gott Odin glaubt, kommt nach Walhalla.»
|191| «Wer glaubt denn heutzutage schon an Odin?», fragte ich.
«Kaum einer. Und glaub mir, das deprimiert den armen Kerl ganz schön.»
Irritiert stellte ich mir vor, wie Odin bei einem Abendessen mit Jesus und Buddha sein Leid klagt und sich überlegt, einen
P R-Berater zu nehmen, um den Glauben an ihn wieder populärer zu machen.
«Jeder bekommt das Leben nach dem Tod, an das er zuvor geglaubt hat», ergänzte der dicke nackte Buddha. Und ich fand, dass
das gerecht klang.
Das Ganze warf nur eine Frage auf: «Ich habe nie ans Nirwana geglaubt. Warum bin ich dann hier?»
«Ich bin nicht nur für die Seelen verantwortlich, die an den Buddhismus glauben, sondern auch für alle, die an gar nichts
glauben», antwortete Buddha.
«Und warum?»
«Weil bei mir die Ungläubigen für ihren Unglauben nicht bestraft werden.»
Das leuchtete ein. Wenn sich Buddha um alle Konfessionslosen kümmerte, kamen die anderen Herren nicht in die unangenehme Lage,
Seelen zu verdammen, nur weil sie ungläubig waren.
«Bist du nun bereit für das Nirwana?», fragte Buddha. Es sollte wohl eine rhetorische Frage sein. Er dachte sicher, dass ich
jetzt «Aber hallo!» schmettern würde, doch ich war unsicher. Ich dachte an die Menschen, die mir etwas bedeuteten: Alex würde
sicherlich glücklich ohne mich sein, aber …
«Was ist mit Lilly. Wird sie glücklich bei Nina werden?», fragte ich.
«Das muss nicht mehr deine Sorge sein.»
|192| «Nicht meine Sorge?»
«Nicht deine Sorge», lächelte der dicke nackte Mann.
«Es geht um meine Tochter!», beharrte ich.
«Es ist dennoch nicht deine Sorge, denn du gehst gleich ins Nirwana.»
Ich schluckte.
«Dort wirst du ewig währendes Glück verspüren.»
Das wollte ich gerne. So gerne. Und ich hatte es mir auch verdient – jedenfalls schien Buddha der Ansicht. Und er war ja eine
anerkannte Autorität auf diesem Gebiet.
«Du wirst dich an nichts mehr aus deinen vielen Leben erinnern», sagte Buddha und ergänzte: «Du wirst all deinen Schmerz vergessen.»
Schmerz vergessen, ewiges Glück – es gibt keinen besseren Deal.
Daher nickte ich und sagte: «Ich bin bereit!»
Und dann sah ich das Licht.
Es wurde immer heller.
Es war wunderschön.
Diesmal wusste ich genau: Ich würde in ihm aufgehen können, es würde mich nicht wieder abstoßen. Diesmal nicht.
Das Licht umhüllte mich.
Sanft.
Warm.
Liebevoll.
Ich umarmte es und ging darin auf.
Ich fühlte mich so wohl.
So geborgen.
So glücklich.
|193| Mein Selbst begann sich aufzulösen. All meine Erinnerungen verblassten: Die Schmerzen meiner Kindheit, die Trauer bei der
Hochzeit von
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