Mieses Karma
blickte auf meine Arme und merkte nicht nur, dass es Menschenarme waren, sondern auch, dass sie hauptsächlich aus Speckrollen
bestanden, die jedem Sumoringer zur Ehre gereicht hätten. Ich setzte mich auf und stellte fest, dass die Speckrollen an den
Armen noch jede Menge Verwandte am Bauch und an den Beinen hatten. Und all diese lieben Verwandten schwabbelten herum, weil
der weibliche Körper, in dem ich mich befand, nur mit Unterwäsche bekleidet war.
Rosa Unterwäsche.
Auf der Daisy Duck abgebildet war.
Ich blickte auf den Teppichboden, der vom gleichen Rosa war wie die Decke, und sah, dass dort die Pizza Hawaii lag – Käse
und Auflage nach unten. Offensichtlich war der Frauenkörper, |197| in dem ich mich befand, mit dem Essen zu Boden gekracht.
Ich versuchte aufzustehen, dabei stellte ich fest, wie schwer dieser neue Körper war: fast zweieinhalbmal so viel wie mein
ehemaliger, den ich doch auch schon für zu dick gehalten hatte und der mir rückblickend leicht wie eine Feder vorkam. (Hätte
ich damals schon gewusst, was es bedeutet, wirklich dick zu sein, hätten mich vier Kilo Übergewicht nicht so viele Frustanfälle
gekostet.)
Ich stemmte meine Massen hoch und schnaufte durch. Noch nie in meinem Leben hatte ich eine solche Sehnsucht nach einem Sauerstoffzelt.
Ich sah an einer der rosa Wände einen Spiegel hängen, schleppte mich zu ihm und blickte hinein. Mir schaute eine außerordentlich
dicke Frau entgegen, die – obwohl sie ein Doppelkinn hatte – ein sehr freundliches, geradezu warmherziges Gesicht besaß. Es
war toll anzusehen und verbreitete eine wunderbare gute Laune. Trotz ihres merkwürdigen Geschmacks und trotz ihres dicken
Äußeren hatte sie eine so freundliche Ausstrahlung, dass man sich irgendwie von Herzen wünschte, sie als beste Freundin zu
haben.
Ich blickte mich weiter um, um noch mehr über die Person, deren Körper meine Seele nun bewohnte, herauszufinden. Die Wohnung
bestand nur aus einem Zimmer mit einigen wenigen Möbeln, die allesamt von Ikea stammten und entsprechend wacklig zusammengebaut
waren.
Auf dem Tisch lag neben einer T V-Zeitschrift eine Telefonrechnung, adressiert an Maria Schneider. Maria – ein schöner Name, ich hatte damals sogar kurz mit dem Gedanken
gespielt, Lilly so zu nennen.
Lilly – schoss es mir durch den Kopf. Ich konnte mit diesem |198| Körper zu Lilly fahren und mit ihr reden! Ich war völlig aufgeregt, spürte, wie diese Aufregung meinem Herzen wehtat. Nicht
nur bildlich gesprochen, sondern auch tatsächlich: Ich hatte Herzstiche.
Ich stützte mich auf der wackligen Kommode ab und hoffte, dass sie nicht unter meinem Gewicht zusammenkrachen würde. Dabei
erblickte ich an der Wand in einem Billigglasrahmen ein Poster, das Robbie Williams mit halbnacktem Oberkörper zeigte. Dieses
Poster anzustarren war für Maria sicherlich das Erotischste, was sie in den letzten Jahren erlebt hatte.
Und während ich so den halbnackten Robbie anstarrte, stellte ich fest: Es war auch das Erotischste, was mir in den letzten
beiden Jahren passiert war.
Ich stöberte weiter herum und fand Herztabletten. Und plötzlich war mir alles klar: Die arme Maria war wohl gerade einem Herzinfarkt
erlegen. Die auf dem rosa Teppichboden pappende Pizza erhärtete den Verdacht.
Was wohl aus Marias Seele geworden war?
Nachdem ich gesehen hatte, welch nettes Gesicht sie hatte, hoffte ich, dass sie statt meiner ins Nirwana gegangen war.
Ich warf eine der Tabletten gegen die Herzstiche ein, schnaufte schwer, setzte mich aufs Sofa und fragte mich, was ich nun
als Nächstes tun sollte. Da steckte jemand von außen einen Schlüssel ins Türschloss. Ängstlich hörte ich, wie er langsam umgedreht
wurde, und bevor ich mir überhaupt ausmalen konnte, was da auf mich zukommt, ging auch schon die Tür auf.
Ein Mittvierziger, dessen Haupt wohl das letzte Mal vor fünfzehn Jahren von Haar bekränzt war, betrat den Raum.
|199| Er blickte mich an.
Und ich erstarrte. Auf dem alten grünen Sofa sitzend. Nur mit rosa Unterwäsche bekleidet. Auf der Daisy Duck zu sehen war.
«Alles in Ordnung?», fragte er. Seine Stimme klang nett.
«Alles tipptopp», erwiderte ich gequält lächelnd.
Er schaute mich zweifelnd an, sah auf die Pizza, und ich erklärte hastig: «Ich bin damit hingefallen.»
«Okay», antwortete er und machte sich sofort daran, die Pizza aufzusammeln.
«Das musst du nicht tun», sagte ich.
«Schon gut», erwiderte er
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