Mieses Karma
mit schmerzenden Gelenken und durchgeschwitzten Klamotten kämpfte ich mich Stunden später wieder «nach Hause»
zurück. Viel zu kaputt, um vor Deckelchens Sexgelüsten noch Angst zu haben.
Er öffnete mir die Tür, betrachtete mich besorgt und wollte mich nach meinem Befinden fragen, doch ich fiel ihm nur ins Wort:
«Ich leg mich jetzt hin. Und wenn du mich nur einmal berühren solltest, spring ich so auf dich drauf, dass du platt bist wie
eine Flunder.»
Dann legte ich mich ins Bett und fiel sofort in einen traumlosen Schlaf.
Wenige Sekunden später – so kam es mir jedenfalls vor – klingelte der Radiowecker. Ich hörte einen völlig aufgekratzten Radiomoderator
krakeelen: «Es ist so etwas von fünf Uhr fünfunddreißig auf 101 FM , und wir spielen die besten Hits aus den Achtzigern, Neunzigern und von heute.»
Ich hatte mich schon seit geraumer Zeit gefragt, welche hirnschädigenden Aufputschdrogen Radiomoderatoren heutzutage eigentlich
einwerfen, und fand, dass es mal toll wäre, wenn einer von ihnen wahrheitsgemäß sagen würde: «Wir spielen die gleiche Soße
wie all die anderen.» Aber ich war |203| viel zu müde, um den Wecker auszustellen. Oder auch nur meine Augen zu öffnen.
«Maria, du musst aufstehen», sagte Deckelchen sanft und ruckelte an meinem Körper.
«Musssichnicht», murmelte ich.
«Du kommst sonst zu spät zur Arbeit», erwiderte er in einem Tonfall, der verriet, dass er in dieser Sache nicht lockerlassen
würde. So richtete ich mich auf und besann mich darauf, dass ich Geld für eine Zugfahrkarte nach Potsdam brauchte: «Weißt
du, wo mein Portemonnaie liegt?»
«Portemonnaie?», fragte Deckelchen. «Seit wann redest du so geschwollen Französisch?»
«Wo ist meine Börse?», korrigierte ich mich.
«Da ist doch eh nichts drin.»
«Fünfzig Euro werden wir ja noch haben», erwiderte ich genervt.
«Klar», sagte er, «gleich neben den Edelsteinen.»
Ich verzog das Gesicht.
«Wir sind völlig pleite, Maria. Die letzten 1,99 gingen für die Pizza drauf.» Er deutete auf den von ihm in meiner Abwesenheit
gesäuberten Teppichboden.
Ich blickte in Deckelchens Augen, und die waren so traurig, dass mir klar wurde: Wir hatten tatsächlich nichts.
«Aber du bekommst heute deinen Wochenlohn», versuchte er mich aufzumuntern. «Doch dazu müsstest du zur Arbeit erscheinen.
Pünktlich. Sonst rastet dein Chef wieder aus.»
Gut, dachte ich bei mir, ich würde also zu dieser Arbeit gehen, mir das Geld abholen und sofort zum Hauptbahnhof düsen. Es
gab nur ein kleinen Haken bei diesem Plan: Ich hatte keine Ahnung, wo ich eigentlich arbeitete.
«Begleitest du mich?», fragte ich daher Deckelchen.
«Das mache ich doch immer», lächelte er nett zurück.
|204| Die Siedlung hatte viel Ähnlichkeit mit der Plattenbausiedlung, in der ich selbst aufgewachsen war: kaputte Spielgeräte auf
verwaisten Spielplätzen, Fassaden voll unfassbar schlechter Graffiti und Menschen, deren Äußeres im größtmöglichen Kontrast
zu den sexy-fröhlichen Personen auf den Werbeplakaten rund um sie herum stand. Viele von ihnen hatten traurige Gesichter,
die sagten: «Ich trinke Jägermeister, weil ich meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt realistisch einschätzen kann.»
Marias freundliches Gesicht, das mir gestern im Spiegel entgegenblickte, war anders. Es war weicher. Kein bisschen verhärmt.
Es ließ vermuten, dass sie trotz des mangelnden Geldes Zuversicht hatte.
Ich wollte mehr über sie erfahren.
Doch wie erfährt man Dinge über eine Person, von der die anderen denken, man sei sie selbst?
Mit einem romantischen Augenaufschlag.
Ich wandte mich mit einem Lächeln an Deckelchen, dessen echten Namen ich immer noch nicht wusste, und fragte: «Sag mir, was
du an mir so liebst!»
Er war recht verblüfft, dass seine Maria wieder so freundlich war. Und so erleichtert, dass er gleich drauflosplapperte: «Du
bist der optimistischste Mensch, den ich kenne. Wenn es regnet, sagst du, dass gleich wieder die Sonne kommt. Wenn Leute zu
dir ungerecht sind, verzeihst du ihnen und glaubst, dass der Kosmos alles wieder ausgleichen wird …»
Was der Kosmos – besser gesagt Buddha – ja auch tut, dachte ich als reinkarnationserfahrene Frau.
«Du bist immer ehrlich, und …», fügte er mit einem Lächeln hinzu, «du bist eine Kanone im Bett!»
Das hatte mir noch nie ein Mann gesagt.
|205| Warum eigentlich nicht?
War ich etwa keine?
Wollte ich wirklich je die
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