Milano Criminale: Roman (German Edition)
vielleicht sogar Politiker!‹
Er hat seine eigene Theorie, was die Studenten hier bei ihnen suchen: Sie wollen sich dem Volk annähern. Sich einschmeicheln. Sich neu legitimieren.
Er hat noch nie jemanden kennengelernt, der an der Uni studiert, weder in der Fabrik noch in der Bar oder im Stadion, wo er zu den Spielen von Inter Mailand geht. Nur seine Schwägerin, klar. Aber die hat einen Vater mit ordentlich Schotter, obwohl der links ist, und die ist natürlich nicht im Giambellino oder auf der Piazza Brescia aufgewachsen. Soweit er weiß, gehen nur die Reichenkinder zur Uni, nicht etwa die armen Schlucker, die am Fließband stehen.
›Was bilden die sich eigentlich ein? Die Welt mit unseren Streikposten zu verändern und dann selbst die Ernte einzufahren?‹
Er hat Castelli sagen hören, dass sie dem französischen Vorbild folgen wollen und eine Art Zusammenarbeit organisieren zwischen denen, die studieren, und denen, die arbeiten.
»Gemeinsam gegen die Arbeitgeber und Ausbeuter!«, schreit der Studentenführer.
»Klar«, witzelt einer aus der Lackierabteilung, der neben Giovanni herläuft, »und dann kommt irgendwann heraus, dass viele der Arbeitgeber eure Väter sind!«
Die anderen tun so, als hätten sie nichts gehört, manche schmunzeln.
»Wir müssen vereint bleiben, wenn wir etwas erreichen wollen!«, wird von hinten geschrien.
Was sie erreichen wollen, sind bessere Arbeitsbedingungen: mehr Sicherheit und kürzere Arbeitszeiten. Ihre Hauptsorge gilt den Medien, ob sie diese Informationen weitergeben, ohne sie wie üblich zu verdrehen. Die Studenten verkürzen die Sache noch einmal und rufen: »Wir wollen alles!«
Giovanni senkt die Fahne. Sie haben ihr Ziel erreicht, und die Polizei ist schon in Stellung gegangen. Bühne frei.
»Der November ist der schlimmste Monat von allen.«
Es klingt wie ein Stöhnen, was Cimmino da ausstößt, während er sich eine Zigarette anzündet. Was ihm einige Mühe bereitet, denn der kalte Wind bläst ihm scharf ins Gesicht und pustet die Flamme immer wieder aus. Vor zehn Minuten hat er seine Schwester in Neapel angerufen: Dort scheint die Sonne bei angenehmen neunzehn Grad.
»Was für eine Scheißstadt«, ruft er und wirft die gleich wieder erloschene Zigarette weg.
Santi und Martinez sehen ihn stumm an. Mit erfrorenen Gliedmaßen und dem Helm auf dem Kopf wie immer.
Heute, nachdem alle Wunden verheilt sind, kehren sie endlich auf die Straße in den Einsatz zurück, wovon beide nicht gerade begeistert sind. Zusammen mit den Kollegen bilden sie eine Sicherungskette rund um den Sitz der RAI auf dem Corso Sempione.
Vor ihnen zieht mit Spruchbändern, Fahnen und Flüstertüten ein neues Heer vorbei. Besser gesagt, ein erneuertes Heer. Mit den altbekannten Gesichtern der Studenten und den neuen der Arbeiter. Auch wenn die aus der Fabrik ungefähr doppelt so alt sind wie die von der Uni. Arbeiter und Studenten gegen die RAI .
»Gegen die Desinformation, so nennen sie das«, kommentiert Cimmino auf und ab laufend. »Ihr könnt mich mal!«
Die Journalisten reden weiterhin vom heißen Herbst, doch Santi friert an diesem Novembernachmittag mehr als sonst. Das Bein schmerzt immer noch, und die eisige Kälte tut ihm alles andere als gut.
Er starrt auf die Meute vor ihnen. Früher prügelten sie nur auf Studenten ein, seit einigen Wochen auch auf Arbeiter. Heute, so scheint es, läuft es auf beide gemeinsam hinaus. Eine echte Steigerung.
Plötzlich entdeckt Antonio zwischen all den Gesichtern eines, das er kennt. Zuerst traut er seinen Augen nicht, dann durchfährt ihn ein Schauer, als er die plumpe Gestalt seines Bruders Giovanni erkennt, mit Blaumann und roter Fahne, mitten unter den Demonstranten. Doch er ist weder enttäuscht noch verärgert. Er muss lächeln.
»Was gibt’s denn da zu lachen?«, fragt Martinez. »Gleich hagelt’s Prügel und du lachst …«
»Dahinten ist mein Bruder.«
»Ist er Arbeiter?«
»Ja.«
»Und das freut dich?«
Santi nickt nur. Nicolò würde es nicht verstehen; er kann ihm nicht erklären, wie froh er ist, dass Giovanni nicht zu träge ist, um an etwas zu glauben, dass auch er Ideale hat.
Dann verfinstert sich seine Miene jäh: Er sieht plötzlich wieder Michael Collins vor sich, der wie ein Idiot den Mond umkreist und nicht aussteigen kann.
›Und ich‹, fragt sich Santi, ›an was glaube ich?‹
2
Der Zug fährt mit zwei Stunden Verspätung im Bahnhof Termini ein. Eilig steigt Antonio aus. Zum Glück hat er den Nachtzug
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