Milano Criminale: Roman (German Edition)
genommen, sonst hätte er es niemals pünktlich zu der Prüfung für Kommissarsanwärter geschafft. Er hat die ganze Nacht kein Auge zugetan. Auf den Knien die Lehrbücher, während vor dem Fenster Italien vorbeiflog.
Er freut sich, Rom wiederzusehen. Seit seiner Versetzung nach Mailand war er nicht mehr hier, und er hatte fast vergessen, wie angenehm das Klima in der Hauptstadt ist. Es ist November und fühlt sich an wie Frühling. Als er in Mailand losfuhr, lagen Nebel und Dunkelheit über den Gleisen, und hier empfängt ihn ein sonniger Tag; den Mantel lässt er locker geöffnet, als er zügigen Schrittes auf den Ausgang zugeht.
Oben im Norden hingegen herrscht eisige Kälte. Scighera und ein kalter Wind, der von den Alpen herüberbläst. Sein Bruder Giovanni reibt sich die Hände, um sie ein wenig zu wärmen.
»Du hättest besser mal Handschuhe angezogen«, bemerkt sein Kollege.
Die Finger werden ihm steif werden, während er eisern die Fahne schwingt, aber er wird durchhalten. Dies ist der Tag des Generalstreiks für bezahlbaren Wohnraum, sie brauchen die Unterstützung von allen.
Ein paar hundert Meter weiter sitzt Martinez hinter dem Steuer eines Jeeps, zusammen mit drei weiteren Polizisten. Der Beamte ist zwar in den aktiven Dienst zurückgekehrt, doch da er noch immer nicht ganz auf der Höhe ist, will Cimmino ihm die Anstrengung ersparen, zu Fuß zu gehen.
» Guagliò , du weißt, wie man den fährt, oder?«
Nicolò nickt.
»Das ist gut, denn heute müsst ihr hart dagegenhalten: Wir sind doppelt gearscht. Auf der einen Seite die Arbeiter und Gewerkschaftler und auf der anderen diese linken APO -Wichser mit den Studenten. Fehlt nur noch, dass die Faschisten irgendwo auflaufen, dann ist es perfekt!«
Die Gewerkschaften haben im Teatro Lirico eine Versammlung abgehalten, und während die Menge aus dem Saal strömt, marschiert in der Via Larga, nicht weit von der Staatlichen Universität entfernt, der Protestzug der Marxisten-Leninisten los. Eine Studentengruppe – mindestens fünfhundert haben sich kurz zuvor am Dom versammelt – schließt sich der außerparlamentarischen Linken an. Unter ihnen auch viele Katangesen.
Die Arbeiter, die aus dem Lirico kommen, vermischen sich gleich mit dem Demonstrationszug und verwirren so die sie flankierenden Polizisten.
»Und jetzt?«, fragt sich Cimmino. »Was sollen wir tun?«
Während der vordere Teil des Protestzugs sich mit den Arbeitern vereint, umstellen andere vereinzelte Mitmarschierer von hinten einen kleineren Trupp von Polizisten, die zurückgeblieben sind. Die Beamten versuchen, in eine Seitenstraße auszuweichen, um die Hauptstraße nicht zu versperren. Das Auto gerät kurz ins Schleudern.
»Was soll das, Martinez? Beinah hättest du einen überfahren!«
Bei dem Lenkmanöver hat er einen Studenten im Parka gestreift.
»Der ist noch nachgekommen«, verteidigt sich der Carabiniere. »Außerdem ist ihm ja nichts passiert. Guck doch, wie er springt!«
Doch die empörte Reaktion der Demonstranten folgt auf dem Fuß.
»Scheiß-Faschisten! Ihr wollt uns plattmachen!«
Sie schreien und fangen an, sie mit irgendwelchen Sachen zu bewerfen. Die Polizisten gehen zum Gegenangriff über, doch die Katangesen sehen nicht tatenlos zu: Sie demontieren eine nahe Baustelle, während die Luft sich mit Tränengas füllt.
»Bleib auf der Straße, Martinez, verdammt noch mal. Wo hast du denn nur Fahren gelernt?«
Der junge Mann ist völlig aufgelöst, er weiß gar nicht, wann er das letzte Mal Auto gefahren ist, vor einem Jahr vielleicht. Er schwitzt trotz der Kälte. Plötzlich schert der Jeep wieder aus und stößt mit einem anderen Militärfahrzeug zusammen. Kein schlimmer Unfall, nur ein paar Dellen in der Karosserie, aber ein schöner Schrecken für die Insassen beider Fahrzeuge.
»Mist! Sobald sich das Chaos hier ein bisschen beruhigt, übernehme ich das Steuer«, schreit der Polizist neben Nicolò auf dem Beifahrersitz. Dann steigen die drei Mitfahrer aus und gehen mit den Schlagstöcken in der Hand zu Fuß weiter. Er bleibt alleine im Wagen zurück.
Die Lage ist bis zum Äußersten gespannt, die Demonstranten versuchen, den Jeeps die Durchfahrt zu versperren. Toller Einfall von Cimmino, ganz junge Beamten ans Steuer zu setzen. Die Menge ist blind vor Hass. Der Vizekommissar erkennt seinen Fehler erst, als es schon zu spät ist. Er steht mitten im Getümmel und beobachtet alles. Die Extremisten schrauben das Baugerüst vor der Kommunalverwaltung in der
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