Milano Criminale: Roman (German Edition)
Kollegen das nicht mehr so hinnehmen wollen. Die Zeiten haben sich geändert. Und das ist ihnen garantiert nicht dadurch klar geworden, dass man es ihnen bis zum Erbrechen auf den Versammlungen draußen und an den Streikposten vor dem Fabriktor erklärt hätte; nein, sie haben es am eigenen Leib erfahren.
»Wisst ihr, dass unsere Löhne die niedrigsten Löhne in ganz Europa sind? Dass die Arbeitsbedingungen vieler Arbeiter – auch angesichts der aktuellen Gesundheitsvorschriften – mehr als fragwürdig sind?«, fragt einer der Organisatoren rhetorisch, bevor der Protestzug losmarschiert. »Ganz zu schweigen davon, dass in italienischen Fabriken durchschnittlich jede Stunde ein Mensch stirbt, alle zwanzig Minuten einer arbeitsunfähig wird und alle vier Sekunden ein Arbeitsunfall passiert!«
Man applaudiert, nickt, fühlt sich gemeinsam stark. Vorreiter waren die Pirelli-Arbeiter, nachdem die Unternehmensleitung Tausende Arbeiter freigestellt hatte, als Reaktion auf die Streikwelle nach der Vertragserneuerung der Chemie- Metallarbeiter. Dieselbe Taktik, die auch schon von Fiat in Turin angewandt wurde und dort genauso fehlgeschlagen war wie hier in Mailand.
Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Der Betriebsrat von Pirelli hatte mit Besetzungen, punktuellen Streiks und Protestmärschen durch die Stadt reagiert. Damit begann die Phase, die der sozialistische Parteivorsitzende Francesco De Martino im Abgeordnetenhaus als »heißen Herbst« bezeichnete.
Sie erleben eine Revolution von unten, entfacht von den Fließbandarbeitern, viele von ihnen Einwanderer aus Süditalien. Praktisch unerfahren in der Gewerkschaftsarbeit, oftmals in ihrem eigenen Land geächtet, protestieren sie gegen ihre schlechten Lebensbedingungen und die unsicheren Arbeitsverhältnisse. So entstehen die CUB , Comitati Unitari di Base, in denen die Arbeiterkomitees am Ende nicht selten die eingeschlagene Richtung der Gewerkschaften kritisieren und sie links überholen.
Giovanni schwimmt auf der Welle mit. Die zahlreichen Versammlungen sind immer voll, und er ist mit großer Begeisterung dabei. Die Art der Veranstaltung ist im Übrigen ganz neu: Es gibt nicht nur einen Redner, sondern jeder, der will, kann zum Mikrophon greifen, so dass die Treffen zu einem starken Mittel der Selbstbestimmung werden. Vor einigen Tagen hatten seine Leute von SIT -Siemens und die Arbeiter von Alfa eine übergreifende Versammlung organisiert, an der das Interesse so groß war, dass sie die Sporthalle zwischen den beiden Fabriken besetzen mussten. Eine phantastische Versammlung, auf der über alles diskutiert wurde: Gleichstellungsregeln, Arbeitszeitverkürzung, interne Mobilität, feste Löhne unabhängig von der Produktivität, und außerdem Formen des Arbeitskampfes.
Giovanni weiß, wie hart es ist, bei Morgengrauen aufzustehen und den ganzen Tag zu arbeiten, ohne irgendeine Garantie außer dem kargen Lohn am Ende des Monats.
›Ist doch logisch, dass das Band vor lauter Spannung irgendwann reißt‹, denkt er, als er im Blaumann den Corso Sempione hinabläuft, in der Hand die Gewerkschaftsfahne. Die Beteiligung an der heutigen Demonstration ist groß, außer ihnen laufen auch die Studenten mit.
»1968 war das Jahr der Studenten, 1969 gehört uns: den Blaumännern!«, lautet einer der von den CUB s ausgegebenen Slogans.
In Mailand hat sich der Schwerpunkt der Kämpfe aus den Hörsälen hin zu den Toren von Alfa Romeo, Pirelli und SIT -Siemens verlagert. Die Arbeiterfrage ist vor den Blicken der Öffentlichkeit explodiert, mit einer Kraft, die weder Gewerkschaftler noch Unternehmer für möglich gehalten hätten: alles vor dem Hintergrund einer zeitgleichen Verlängerung von zweiunddreißig Tarifverträgen. Seit langem aufgebaute Spannungen und Ärger machen sich Luft, alles auf einmal.
Während des Protestmarsches entdeckt Giovanni unter den Anführern des Zuges auch diesen Castelli, von dem sein Bruder so oft spricht. Er schiebt sich näher heran, um ihm zuzuhören. Der Mann ist elegant gekleidet, hat immer etwas zu sagen und eine geschliffene Ausdrucksweise. Auch die Leute von den CUB s hören ihm zu. Sie arbeiten an einer gemeinsamen Strategie.
›Mit welchem Ziel weiß man nicht‹, schießt es Giovanni ketzerisch durch den Kopf. ›Was zum Teufel haben wir mit denen da schon gemeinsam, die noch nie einen Fuß in eine Fabrik gesetzt haben? Ihr Geld kriegen sie von Papa, und am Ende werden sie doch alle Anwälte, Ärzte, Professoren,
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