Milano Criminale: Roman (German Edition)
eine oder andere Bar, ein struppiges Fleckchen Gras und eine Baumreihe entlang des Naviglio.
Nachdem er sichergestellt hat, dass die Straße leer ist, holt Vandelli eine Beretta Kaliber .22 hervor und zieht dem Männlein den Knauf über den Kopf. Mit einem bestialischen Schrei stürzt er zu Boden und lässt die Tasche fallen. Roberto entwaffnet ihn, dann sammelt er die danè ein, doch sein Opfer, das noch bei Bewusstsein ist, klammert sich an seine Beine und schreit laut: »Hilfe, ich werde ausgeraubt!«
Gemessen an seiner Statur entwickelt er eindrucksvolle Kräfte, und es braucht ein paar wohlgesetzte Tritte, um ihn abzuschütteln. Durch die Rangelei verliert Roberto kostbare Sekunden. Als er sich von dem Geldboten freigemacht hat und wegrennt, treten aus den Geschäften und Häusern schon Leute, alarmiert durch die Schreie. Er wirft die Pistole in den Kanal und überspringt den Zaun zu einem Baugelände, das den Lauf flankiert.
Innerhalb von fünf Minuten treffen ein Dutzend Polizeiwagen ein, die von der ersten Streife gerufen wurden.
»Die Studenten halten heute wohl still!«, ärgert sich Vandelli, während er einen Unterschlupf sucht.
Die Polizisten haben derweil den Häuserblock umstellt, und er ist auf der Baustelle im Rohbau eines Gebäudes gefangen.
In rasender Eile überlegt er hin und her und beschließt, einen Fluchtweg über die Dächer zu suchen.
»Da ist er, da oben!«, schreit jemand, der ihn auf dem Dach entdeckt hat.
»Mach keinen Unsinn«, ruft ihm Commissario Piazza zu, der aus einem der Wagen gestiegen ist. »Komm runter und ergib dich.«
Vandelli, nassgeschwitzt und keuchend, spielt seinen letzten Trumpf aus. Alles oder nichts. Er entledigt sich der Geldtasche und klettert über das Dach in ein Wohnhaus. Er kann so tun, als sei er ein normaler Hausbewohner, der das Haus verlässt. Er muss nur möglichst natürlich wirken.
Ruhig steigt er die Treppe hinab und öffnet die Haustür. Er hat kein Glück. Heute ist ganz eindeutig nicht sein Tag. Eine Wache erkennt ihn, und sofort sind vier Leute über ihm.
Piazza betrachtet mit zufriedener Miene, wie er in den Streifenwagen verfrachtet wird.
»Was gibt’s da zu grinsen, Bulle?«, schnauzt Vandelli ihn an.
Der Commissario bleibt ruhig, da muss schon mehr passieren, damit er aus der Haut fährt. Im Gegenteil, er ist derart guter Dinge, dass er beschließt, mit dem Ganoven noch auf einen Gruß bei einem alten Bekannten vorbeizuschauen.
Als Santi seinen Rivalen vom Giambellino wiedersieht, in Handschellen auf den Fluren der Questura, kann auch er sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Vandelli erwidert es nicht. In seinen grünen Augen glimmt ein beunruhigendes Licht, wie ein Feuer, das alles um sich herum verzehrt.
»Manche Männer reisen auf den Mond, andere nach San Vittore«, begrüßt ihn Antonio. »Du wirst es nie ganz nach oben schaffen, wenn du so weitermachst, Vandelli. In der Zwei reißen sie dir den Arsch auf.«
»Das werden wir ja sehen, Bulle. Und außerdem«, er deutet mit dem Kinn auf den Stock, auf den der Polizist sich stützt, »wie ich sehe, haben sie dir auch ordentlich eins übergebraten. Wie leid mir das tut.«
Dann endet dieser kleine Schlagabtausch mit einem gegenseitigen kurzen Nicken.
4
Feinde.
Davon hat Giorgio sich so einige gemacht in seinem Leben, das bringt ihn in seinem Alter nicht mehr aus der Ruhe.
Manchmal zählt er sie geradezu genüsslich durch. Feinde sind irgendwie so beruhigend, ohne böse Überraschungen, man weiß immer genau, was von ihnen zu erwarten ist. Was ihn viel mehr beunruhigt, sind seine Freunde, also die angeblichen. Für sie hat er einen Namen erfunden: die Läuse. Die an dir dranhängen, wenn sie sich etwas davon versprechen, und auf Nimmerwiedersehen verschwinden, sobald sie ihr Ziel erreicht haben.
»Wenn es den Schmarotzern gutgeht, sind sie die Ersten, die sich aus dem Staub machen«, hatte ihm sein Vater vor ewigen Zeiten eingebläut. Und das war ihm immer noch eine Warnung.
Wenn er darüber nachdenkt, gibt es so einige Läuse in den Kreisen, in denen er unterwegs ist, vor allem jetzt, wo er in Frankreich diesen renommierten Buchpreis bekommen hat. Kaum hatten die Zeitungen die Nachricht verbreitet, kamen sie gerannt. Alle. Leute, von denen er nie wieder etwas hatte hören wollen, Menschen, die ihn hassten. Selbst solche, die er längst für tot gehalten hatte. Sogar ein Kritiker, der ihn einmal einen wertlosen Schreiberling genannt hatte, weil er sich nicht der großen
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