Milano Criminale: Roman (German Edition)
Nacht ist Mailand eine zerstreute Liebhaberin, doch nicht minder betörend. Schweigsam und entspannt, schmachtend und verführerisch. Pulsierend vor Leben. Bebend, unter dem dünnen Schleier eines leichten Nebels, der die Umrisse schmutzig verwischt, mit überfüllten Cafés, Jugendlichen, die draußen in Ruhe beisammen sein oder reden wollen, Studenten an Bushaltestellen, die in ihren Hosentaschen nach Kleingeld kramen, um zu entscheiden, ob sie sich ein paar Stunden zum Trinken ins Warme setzen können.
Vom Bürgersteig aus betrachtet wirkt die Stadt wie aus einem anderen Jahrhundert. Eine moderne Metropole mit Angestellten und Arbeitern, Drogerien, Eisenwaren-, Kurz- und Schreibwarenhandlungen, düsteren Bars und schwarz verkohlten Häuserfronten, mit Dunstwolken, die aus den industriellen Randbezirken bis über die Navigli herüberwehen, eine Art Vorgeschmack auf die Arbeiterdemonstrationen, wenn die Ränder der Spruchbänder aus den Fabriken an den Brüstungen der Balkone entlangstreifen, oder auf die Studentenmärsche unter der Woche, welche die Straßen der Innenstadt mit Rot überziehen. Einer Innenstadt, die immer voll von Touristen ist, die ihre Fotoapparate auf die Spitzen des Doms richten, durch die Galleria schlendern oder großzügig ihr Geld im Kaufhaus Rinascente lassen.
Eine hektische Stadt, in der alle von einer unaufhaltsamen Eile getrieben werden, selbst beim Mittagessen. Und das nicht, weil es nicht schmeckt, im Gegenteil. In den volkstümlichen Trattorien isst man gut – vor allem in jenen toskanischen, wo die Mailänder Angestellten ihren Hunger stillen – oder in den Osterien unter apulischer oder piemontesischer Führung, oder in den Käsehandlungen, wo man an winzigen Tischen Spiegelei, Käse und Wein aus Korbflaschen serviert bekommt. In den Straßen des Zentrums reiht sich ein kleiner Laden an den nächsten, doch sobald man einen Schritt zurücktritt, verschwimmt alles zu einem Einheitsbrei; Büroviertel lassen sich nicht von Wohnvierteln unterscheiden, in der chaotischen und beliebigen Nutzung des urbanen Raums spiegelt sich die ehemals fiebrige Eile des Wiederaufbaus. Dem aufmerksamen Blick entgeht nicht, dass eine moderne Häuserfront eingerahmt von Jugendstil-Fassaden nur die Füllung für das kariöse Loch einer Kriegsbombe ist, doch kaum jemand achtet darauf. Die Menschen sind vollauf beschäftigt mit der Produktion. Der Wirtschaftsboom sitzt ihnen im Nacken, sie wollen ihre Arbeit tun. Doch nicht an diesem Abend, heute ist alles ruhig und man würde am liebsten die Arme ausbreiten und alle Einwohner kräftig an sich drücken. Die Frau in Hauspantoffeln, die im Palestro-Park ihre Katze sucht, die zwei Nachtwächter, die mit dem Fahrrad einen Jungen auf dem Corso Magenta verfolgen, den Betrunkenen, der unter den Säulen von San Lorenzo einherwankt, ein Liebespaar, das sich unter dem Löwen von San Babila küsst, zwei Jugendliche, die sich in einer Dachstube im Ticinese lieben und gegen die winterliche Kälte begierig ihre Körper aneinanderreiben. Alles möchte man umarmen, denn die Menschen sind es, die diese Stadt mit pulsierendem Leben erfüllen und sie so großartig machen.
Dies ist die Nacht, in der man weinen und lieben möchte. Sogar der Mond hat ein Stück Himmel gefunden, von dem er herabblicken kann.
In dieser Nacht bebt die Metropole von tausenderlei Emotionen, geziert und hochmütig, volksnah und chaotisch, lebendig und verführerisch; sie weiß nichts von dem schrecklichen Tag, der sie am nächsten Morgen erwartet.
6
Das kleine Mädchen ist ungefähr zwei. Sie trägt ein rotes Kleid, unter dem ihre rosafarbenen Schleifchen-Schuhe hervorschauen. Im Arm trägt sie eine Puppe, die sie Martina genannt hat, ihre Lieblingspuppe. Und sie hält sie dem Vater hin.
»Ist die für mich, mein Schatz?«
Die Kleine lächelt und versteckt sich schüchtern hinter dem Rock der Mutter. Der Mann nimmt das Püppchen hoch – er ist stark, von der Feldarbeit – und gibt ihm einen Kuss. Er trägt an diesem Tag einen dunklen Anzug und einen grauen Paletot mit geräumigen Taschen. Dort passt Martina perfekt hinein. Es ist eine alte Lumpenpuppe, mit Zöpfen aus Strohhaaren. Sie trägt eine kleine blaue Schürze mit weißen Punkten.
»Jetzt mache ich mit ihr einen Ausflug in die Stadt, und heute Abend schlaft ihr beide wieder in deinem Bettchen, einverstanden?«
Das Mädchen nickt.
»Ich bin bald zurück«, sagt er zu seiner Frau und küsst sie im Hinausgehen.
Als die Tür ins
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