Milano Criminale: Roman (German Edition)
andere bringen. Das will ihm nicht in den Kopf.
Die festgenommenen Personen kommen von überall her, alte und neue Bekannte der Polizei, vereint im vierten Stock des Präsidiums in den Räumen der Politischen Abteilung. Als Hauptverdächtiger wird schließlich Paolo Valletta ausfindig gemacht, Anarchist der ersten Stunden und Ex-Tänzer. Die Aussage eines Taxifahrers reißt ihn rein, der sagt, er habe ihn kurz vor der Detonation zur Piazza Fontana gefahren und gesehen, dass er ein schwarzes Köfferchen bei sich hatte. Das genügt der Polizei. Der Anarchist landet in einem römischen Gefängnis mit der Anklage auf Massenmord.
Für Antonios Geschmack war das Aufregung genug für die vergangenen vierundzwanzig Stunden. Als er jedoch am Ende dieses Wahnsinnstages nach Hause kommt, fällt ihm Carla wieder ein, die am selben Tag zum Arzt gegangen ist.
Keiner der beiden erwähnt die Bombe. Schweigen und vergessen.
»Was hat er gesagt?«
Sie lacht und weint gleichzeitig.
»Ich bin schwanger«, flüstert sie.
Antonio liegt eine Frage auf der Zunge. Nicht die, die alle stellen. Keine, die jetzt eigentlich passend wäre. Vielleicht aus Instinkt, vielleicht wegen des schrecklichen Tages oder einfach, weil man gewisse Sachen nicht ewig mit sich herumtragen kann. Doch er stellt sie nicht. Er möchte seine Frau fragen, ob dieses Kind in ihrem Schoß wirklich von ihm ist. Doch er versteht es, in Carlas Augen zu lesen. Sie bleibt ganz ruhig. Kein Geschrei, kein Theater, keine Empörung. Nur ein leichtes Kopfnicken, um ihn zu beruhigen.
Dem Polizisten, dem Mann genügt das. Er küsst sie und drückt sie fest an sich. Und lässt nun auch zu, dass ihm Tränen über die Wangen laufen.
8
Grausiges Blutbad in Mailand.
Mit diesen vier Worten erzählt der ›Corriere‹ die Apokalypse des Vortages. Die Bilanz des Bombenanschlags auf der Piazza Fontana sind sechzehn Tote und siebenundachtzig Verletzte. Antonio hatte also gar nicht so falsch gelegen, als er hundert Rettungswagen anforderte.
Das ist ihm allerdings nicht der geringste Trost, als er die Liste der Opfer durchgeht. Alles Bankkunden: Kleinbauern, Landwirte von außerhalb, einfache Städter. Warum bringt man sie um?
In der Via Fatebenefratelli hat noch nie solches Treiben geherrscht. Sämtliche Telefone klingeln. Die Flure wimmeln von Uniformen und Leuten mit Sorgenfalten auf der Stirn.
Die Jagd ist offiziell eröffnet. Nachdem Valletta in Rom in der Zelle gelandet ist – seine Festnahme bescherte den Ermittlern ein Glückwunschtelegramm vom Staatspräsidenten –, wird nach Komplizen gefahndet. Denn natürlich kann er nicht alles allein getan haben.
Santi wandert nervös auf dem Hof der Questura auf und ab. Im Mund stets eine Fluppe und die Reporter immer in nächster Nähe, die er sich vom Leib halten muss. Sie stehen dort wie festgewachsen und fragen pausenlos nach Neuigkeiten.
»Was geschieht in der Politischen Abteilung? Hat jemand gesungen?«
»In jedem Kriminellen kann ein Subversiver stecken«, hatte Catalano seinen Untergebenen eingeimpft. »Denkt immer daran. Alle Verdächtigen werden festgenommen: Studenten, Arbeiter, Anarchisten. Jeder, der etwas zu verbergen haben könnte, her mit ihm, damit wir ihn verhören.«
Und sie hatten ihm gehorcht. Den ganzen Tag lang herrschte reges Kommen und Gehen, bis Antonio plötzlich, mitten in der Nacht, ein Déjà-vu hat, die Wiederholung jener Nacht vor sechs Monaten. Dieselbe Besetzung, dasselbe Büro. Dasselbe Drehbuch. Der Polizist klagt an, der Anarchist erklärt sich für unschuldig.
Verhört wird Gianni Parenti, von Angesicht zu Angesicht mit Catalano. Außer ihnen befinden sich vier weitere Polizisten und ein Carabinieri-Capitano in dem Raum.
Santi sieht auf die Uhr. Halb zwölf nachts. Sie piesacken ihn schon eine ganze Weile.
Jetzt wird Catalano von dem Polizeipräsidenten hinausgerufen. Er erhebt sich von seinem Stuhl und verlässt den Raum. Er ist ziemlich schnell zurück, nach einer kurzen Unterredung. Langsam schließt er die Tür hinter sich und blickt dabei starr auf den Boden. Sein Gesicht wirkt angespannt; auch er spürt allmählich die Müdigkeit. Alle schweigen. Sie wissen, dass Catalano auf Zeit spielt, bevor er den Spielzug tut, der dem Verhör die entscheidende Wendung geben könnte.
Plötzlich scheint er hochzufahren. Er hebt den Kopf und blickt Parenti scharf in die Augen. »Valletta hat geredet«, verkündet er. »Jetzt kannst du einpacken.«
Nun bringt der Commissario sogar ein kleines
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