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Milano Criminale: Roman (German Edition)

Milano Criminale: Roman (German Edition)

Titel: Milano Criminale: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Roversi
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schießt eine blinde Wut gegen diesen Mann hoch: Er sprintet los, konditionierter Reflex. Er kann nicht hinnehmen, dass Martinez sogar als Totem noch der Respekt verwehrt wird.
    Er jagt hinter ihm her, gefolgt von Cimmino, der allerdings wegen seiner Masse keine große Hilfe ist.
    Hinter ihnen ein Strom von Menschen und eine kleine Sympathisanten-Gruppe von Giovine Italia, die den Roten in Stücke reißen wollen. Durch den Corso Vittorio Emanuele hallen die Schreie: »Haltet den Kerl! Maledetto! «
    Antonio ist ihm dicht auf den Fersen, er rennt so schnell, wie er es sich selbst kaum zugetraut hätte. Sein Bein schmerzt nicht, oder er ist einfach zu aufgebracht, um es zu bemerken.
    Der Flüchtende dreht sich um, und sein Blick bohrt sich in die Augen des Bullen. Das genügt zum Wiedererkennen.
    ›Der Mann, der in diesen Tagen mehr als jeder andere die Wurzel allen Übels repräsentiert‹, denkt Santi. ›Giorgio Castelli.‹
    Ein Zweifel meldet sich mit einem schmerzhaften Stich in die Magengrube.
    ›Was würde Nicolosi tun? Wie würde er sich verhalten?‹
    Ihm bleiben nur wenige Sekunden, um zu entscheiden, ob er ihn der heranrollenden Welle der Masse überlassen oder ihm die Haut retten soll.
    Er sieht Bilder von in Brand gesteckten Straßenbahnen vor sich, von auf sie zufliegenden Steinen bei Demos, vom Rauch, der zusammen mit dem Benzingestank von den Barrikaden aufsteigt, von den Katangesen, die ihn mit Tritten traktieren und ihm die Knochen brechen, vom armen Nicolò mit durchbohrtem Schädel …
    Plötzlich weiß Antonio, was er zu tun hat, vielleicht aufgrund seiner katholischen Erziehung, vielleicht weil er sonst die Uniform verraten würde, die er trägt. Oder einfach, weil er niemandem Gelegenheit zu einem weiteren Mord geben möchte und zu dem, was in seinen Augen ein völlig sinnloser Guerillakrieg geworden ist.
    »Schluss mit dem Morden«, sagt er sich, während er mit ausgestrecktem Arm Castelli packt und beiseitezieht.
    »Folge mir!«, schreit er dem keuchenden Cimmino zu. Santi nimmt auch ihn am Arm und zerrt ihn auf die linke Straßenseite, wo er eine offene Apotheke gesehen hat.
    »Da rein!«
    In dem Geschäft rennen alle drei unabgesprochen zu dem metallenen Rollladen und ziehen ihn mit ganzer Kraft hinunter. Der Apotheker ist so benommen vor Schreck, dass er kein Wort hervorbringt.
    Sie verankern den Rollladen im Fußboden und lassen sich erschöpft dagegen sinken. Antonio schließt die Augen. Sein Herz klopft ihm bis zum Hals, als wolle es jeden Moment zerspringen.
    Niemand sagt etwas, während sie draußen die aufgebrachte Menge schreien und gegen das Metall treten hören.
    »Wenn sie den kaputtkriegen, sind wir dran«, stöhnt Cimmino. Er ist knallrot im Gesicht und ringt nach Luft.
    Die Minuten dehnen sich endlos. Der Rollladen bebt unter den Fäusten, Tritten und gewaltsam dagegengeschleuderten Gegenständen.
    Obwohl die Luft zum Zerreißen gespannt ist, hat Santi die Muße, Castellis undurchdringliche Miene zu betrachten, des Mannes, der sich innerhalb weniger Jahre nicht nur Respekt bei Schülern und Studenten, sondern auch bei Professoren, Richtern und Journalisten erarbeitet hat. Der andere erwidert seinen Blick: hochmütig und distanziert, als wäre er irgendwo, aber keinesfalls einen Schritt vom Gelynchtwerden entfernt.
    Nach einer gefühlten Ewigkeit bricht das Getöse jäh ab, und von draußen erklingt Commissario Catalanos Stimme.
    »Wir haben sie verjagt, ihr könnt jetzt rauskommen!«
    Antonio mag trotzdem nicht aufatmen. Klar, sie haben überlebt, doch eine solche Szene bei der Beerdigung seines Freundes, das ist, als hätten sie ihn ein zweites Mal umgebracht.
    Castelli wird aufs Präsidium gebracht, doch das Ende steht ohnehin schon fest. Der Student hat sich hinter einem ehernen Schweigen verschanzt. Nicht einmal ein Wort des Dankes kommt ihm über die Lippen.
    Wenige Stunden später ist er wieder frei, die Anklage wird lediglich auf Störung der Totenruhe lauten, ungeachtet des Krawalls, der daraus entstanden ist. Santi beobachtet, wie Catalano ihn wegführt. Castelli hebt grüßend die Hand in seine Richtung, grient. Nicht unbedingt höhnisch, aber auch keinesfalls dankbar. Die Miene eines Mannes, der weiß, ganz egal wie die Dinge laufen, er wird immer irgendwie davonkommen.
    Antonio bleibt mit der bitteren Gewissheit zurück, dass sie nicht nur keinen Schuldigen haben, sondern vielleicht auch niemals wissen werden, wer Martinez letztlich getötet hat.
    5
    In dieser

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