Milano Criminale: Roman (German Edition)
Questura bestätigen« und der ganzen Parade von Standardformulierungen.
Dennoch kann er nicht alle überzeugen. Die Studenten sind sich ihrer Sache ganz sicher: Es war ein Unfall. Noch am selben Abend besetzen sie die Università Statale als Zeichen des Protestes gegen die »rechte Faschisten-Polizei«, die sie jetzt auch noch als Mörder abstempeln will.
4
Die Kirche San Carlo ist rappelvoll. So zahlreich sind die Menschen gekommen, dass viele gar keinen Platz mehr finden. Eine Endlosschlange aus Köpfen und nassverheulten Taschentüchern zieht sich über den Corso Vittorio Emanuele von San Babila bis zum Dom.
»Er war noch so jung«, flüstert eine Signora auf dem Kirchplatz. »Ich habe in der Zeitung gelesen, dass er vor wenigen Monaten erst einundzwanzig geworden ist.«
Die Frau in ihrer Begleitung nickt. Sie kannten Agente Nicolò Martinez nicht persönlich, doch die Emotionen, die sein Tod auslöst, sind so groß, dass sie bei der Beerdigung dabei sein möchten, um ihren Schmerz und ihre Anteilnahme zu zeigen. Auch Staatspräsident Giuseppe Saragat hat den Familienangehörigen eine Kondolenzkarte zukommen lassen.
Die Beerdigung findet am 21. dieses eisigen und schrecklichen Novembers statt. In der Aufbahrungshalle haben sie dem armen Polizisten, gebürtig aus Monteforte d’Alpone, den Kopf mit einer weißen Binde umwickelt, die das erlittene Leid verhüllt. Die letzte Ehre erweist ihm nur der Vater. Die Mutter hat es am Herzen und könnte den Anblick ihres Sohnes und dessen, was ihm angetan wurde, nicht ertragen.
›Niemand sollte die eigenen Kinder überleben‹, denkt Antonio, als er den Mann zur Bahre führt. ›Es ist zu grausam.‹
Angesichts des Leichnams seines einzigen Sohnes fällt der Vater – ein Bauer, der sein Leben lang für die Landbesitzer die Weinberge mit den weißen Trauben des Soave und Recioto bestellt hat – auf die Knie. Er weint nicht. Allein ein fragender Schrei entfährt ihm: »Warum?«
Eine Frage, die sich insgeheim auch alle anderen stellen. Antonio würde sich am liebsten auch zu Boden werfen und von der Verzweiflung übermannen lassen. Er fühlt sich unendlich schuldig. Er ist sich sicher, wäre er da gewesen, wäre das nicht passiert, Nicolò wäre mit ein paar Knochenbrüchen davongekommen, höchstens, wie bei den Katangesen. Doch er hatte ihn allein gelassen, alles nur wegen seines selbstsüchtigen Karrierewahns. Er empfindet sich als Verräter. Als sein Freund starb, saß er in einer gut beheizten Aula und füllte Fragebögen aus. Als sein Kopf von einem Rohr durchbohrt wurde, schlürfte er vielleicht gerade in Rom vor einer Bar einen Espresso in der Sonne.
Er verscheucht diese Gedanken und hilft dem alten Vater wieder auf die Beine, doch er kann nicht umhin, sich zu fragen, was ihn eigentlich hierhergeführt hat. Die Gelegenheiten, seine Unrast, sein Gerechtigkeitssinn? Oder schlicht dieser Reiz, der einem keine Ruhe lässt und einen ständig wie ein Affe an der juckenden Stelle herumkratzen lässt, bis es nachlässt? Oder der Zufall? Ein Raubüberfall, mit eigenen Augen gesehen, der das Leben verändert.
Zusammen mit Nicolòs Vater nimmt er in der vordersten Kirchenbank Platz. Hinter ihnen sitzen sämtliche Honoratioren: der Bürgermeister, der Polizeipräsident und der Präfekt. Dahinter dann die Kollegen der Questura: Cimmino mit einem Taschentuch in der Hand, Catalano mit ernstem Gesicht, Piazza mit mürrischer Miene. Irgendwo hinten hat er die rothaarige Studentin gesehen, auch sie ganz gebrochen vom Schmerz.
Draußen in der Menschenmenge erkennt man viele tränennasse Gesichter, nicht nur von Beamten und Kommilitonen, sondern von ganz normalen Menschen, die betroffen sind und einem jungen Mann in Uniform die letzte Ehre erweisen möchten, der auf eine Weise starb, die man seinem schlimmsten Feind nicht wünscht.
Doch selbst die größte Betroffenheit kann den Hass nicht mildern. Als die Zeremonie zu Ende ist und die Menge aus der Kirche strömt, geschieht es.
›Manche Mechanismen sind einfach nicht zu stoppen‹, denkt Antonio und ballt die Hände zu so festen Fäusten, dass sie schmerzen.
Der Trauerzug, der Martinez’ Sarg folgt, wird von einem trostlosen Spektakel aus Rangeleien und lauten Parolen zwischen Maoisten und extremen Rechten begleitet. Die Leute sehen sich verwirrt um, verstehen nicht, was da los ist. Plötzlich löst sich ein Mann aus der Menge und wirft ein rotes Tuch über den Sarg. Das Tuch gleitet ab, und er flüchtet.
In Santi
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