Milano Criminale: Roman (German Edition)
in einer Schublade. Gerade hat er beschlossen, sie niemals wieder hervorzuholen.
10
Der Aufzug fährt so rasch nach oben, dass man fast nach Luft schnappt und die Knie weich werden. Doch als die Metalltüren aufgehen, ist alle Übelkeit sofort verflogen.
»Da wären wir«, verkündet Antonio.
Einunddreißigste Etage des Pirelli-Hauses, der höchste Punkt Mailands. Die Sicht ist atemberaubend.
Carla sprüht geradezu vor Freude und Begeisterung. Der Pirellone, wie die Mailänder ihn nennen, der vor rund zehn Jahren eingeweiht wurde, ist für das Publikum nur zu wenigen Anlässen im Jahr geöffnet. Antonio aber hat beschlossen, heute seine Polizeimarke zu riskieren, denn er hat einen ganz besonderen Anlass zum Feiern: Heute ist ihr zweiter Hochzeitstag, der erste, seit Carla schwanger ist. Nun sind sie also zu dritt hier oben, um das Spektakel zu bewundern. Ihre Streitereien sind beileibe nicht beigelegt, immer noch werden sie von den Ereignissen des Vormonats geschüttelt, doch das Leben geht weiter, wie man so schön sagt. Und sie wollen sich nicht geschlagen geben.
Es war immer Carlas Wunsch, dort hinaufzusteigen.
Also ist Antonio mit ihr nach oben gefahren, denn er will Frieden um jeden Preis, will den verlorenen Einklang wiederfinden. Die Bombe hat einen Teil von ihnen getötet, und er möchte nicht, dass auch der Rest von Geschwüren durchzogen wird. Das darf nicht passieren, nicht jetzt, wo sie ein Kind erwarten.
Ein paar Tage zuvor hat Santi eine Nachricht erhalten: Er bekommt die Stelle als Kommissar. Er hat es geschafft. Bald schon lässt er die Plätze und Straßen hinter sich und das Leben als Demonstrantendrescher. Er wird zur Mobile zurückkehren, dem mobilen Einsatzkommando der Polizei, doch diesmal in führender Position auf Piazzas Posten, der kürzlich zur Mordkommission versetzt wurde.
»Alles wird gut«, flüstert er Carla zu und küsst sie. Er möchte selbst gerne an diese Worte glauben.
Stundenlang treiben sie sich dort oben herum und blicken auf die winzigen Autos und Menschen weit unter ihnen.
Die großen Jugendstil-Palazzi, der Hauptbahnhof so klein wie eine Modelleisenbahn, die Türme des Doms, quasi zum Greifen nahe, die Flugzeuge, die über Linate landen oder starten.
Als es Abend wird, sind sie immer noch da. Reglos. Bibbernd, einander umarmend und glücklich.
Er steht hinter ihr und drückt sie an sich. Vergräbt sein Gesicht in ihren Haaren, atmet ihren Duft ein. Und versinkt unausweichlich in Erinnerungen: Ihm wurde ein Freund ermordet und der Schuldige nicht gefunden. Er hat gesehen, wie eine Bombe mit Staatsbeteiligung in einer Bank explodierte und wie ein zerstreuter Anarchist aus dem Fenster fiel. Vielleicht werden alle drei Vorfälle niemals ganz aufgeklärt werden. Und darum fühlt er sich sterbenselend.
Unter ihnen die rote Stadt. Die nächtlichen Lichter, Laternen, blinkende Werbeschilder, Autoscheinwerfer. Tankstellen, Ampeln, Neonlichter, Rücklichterschlieren. Alles rot.
Mit einem Blick nimmt er ganz Mailand in sich auf. Letztlich eine kleine Stadt, mit dem Bösen in sich. Das pulsierende, grausame Böse, so unbändig, dass es selbst die Farbe der Stadt verwandelt.
Das Schwarz der Kohlen, die grauen Palazzi, sie sind rot geworden. Von Lichtern, nächtlichen Scheinwerfern, blinkenden Krankenwagen, Fahnen in den Straßen, Blut auf den Bürgersteigen.
Rote Stadt.
VIERTER TEIL
DIE WILDE HORDE
Das Spiel des Jahrhunderts
1
An Vandellis erstem Hafttag in der Zwei versucht niemand, ihn anzugehen. Klar, er ist erst achtzehn, aber beileibe kein unbeschriebenes Blatt mehr, so dass ihm die für Neuankömmlinge vorgesehenen Demütigungen erspart bleiben. Zumal bei seinem Temperament niemand vorhersagen könnte, wie er reagiert, wo er wegen der Haft gerade völlig außer sich ist: Zum ersten Mal sitzt er in einem richtigen Gefängnis, in San Vittore. Schon beim Übertreten der Schwelle dieses Gebäudes, das an eine mittelalterliche Burg erinnert, könnte ihm angst und bange werden. Doch er ist hart im Nehmen: Weder die grüngestrichenen Gitter noch der große, zentrale Saal, von dem strahlenförmig die Zellentrakte abgehen, können ihn beeindrucken, und auch nicht das ständige Klappern der Schlüssel oder die in den Fluren widerhallenden Schritte der Aufseher. Er weiß genau, dass die Langeweile sein schlimmster Feind ist. In diesen Mauern gibt es keine Art der Beschäftigung wie im Beccaria: In der Zwei ist man dreiundzwanzig Stunden des Tages mit einem oder zwei
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