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Milano Criminale: Roman (German Edition)

Milano Criminale: Roman (German Edition)

Titel: Milano Criminale: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Roversi
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objektiv wie möglich zu rekonstruieren. Es war ja offensichtlich, dass die Ordnungskräfte mehr als einmal ihre Erklärungsstrategie geändert hatten, bis zur Unglaubwürdigkeit.
    Die Rekonstruktionen der letzten Minuten im Leben und Sterben von Gianni Parenti hatten einander in schneller Folge abgelöst, im Versuch, dem Geschehen eine logische Erklärung zu geben und der öffentlichen Meinung zuvorzukommen, die immer beklemmender wurde.
    Am Ende zirkulierten drei verschiedene Versionen der Sache.
    Die erste: Als Parenti das Fenster aufmachte, versuchten die Beamten, ihn zurückzuhalten, leider ohne Erfolg. Die zweite: Als Parenti das Fenster aufmachte, versuchten sie, ihn zurückzuhalten, aber mit nur teilweisem Erfolg, das heißt, sie haben seinen Schwung gebremst. Das würde erklären, warum er geschliddert und gegen die Wand geschlagen ist, wie die Untersuchung ergab. Schade nur, dass diese Version erst im Nachhinein bekannt wurde, als nämlich die ›Unità‹ und andere Blätter schon die Ungereimtheiten des Falls aufgedeckt hatten. Schließlich die dritte Version, die in einer Vorabmeldung im ›Corriere della Sera‹ erschien und besagte, die Polizei habe versucht, den Selbstmord des Anarchisten zu verhindern. Als Beweis diente der Umstand, dass ein Polizist Parenti, als er das Fenster öffnete, gepackt hatte, um ihn festzuhalten. Und tatsächlich behielt er den Schuh des Selbstmörders in der Hand. Genau hier lag jedoch das Problem. Der Journalist der ›Unità‹, der sich zur fraglichen Zeit im Hof des Präsidiums aufhielt, behauptet, die Leiche hätte beide Schuhe an den Füßen gehabt. Und daran erinnert sich auch Antonio. Der Tote hatte alle beide an. Woher also sollte der kommen, den der Bulle angeblich noch in der Hand hielt?
    »Sieh mal, Carla, das Problem ist nicht ein Schuh zu viel, sondern dass die Polizei von Anfang an falsch mit der Presse umgegangen ist. Das will ich gar nicht bestreiten. Du kannst es ruhig eine übertriebene Abwehr- und Verteidigungshaltung nennen, was den Spekulationen nur noch zusätzliche Nahrung gegeben hat.«
    »Ja, wie auch all der andere Unsinn, den ihr verzapft habt! Selbstmord: Er wollte lieber sterben, als die Genossen zu verraten , oder das hier: Er warf eine Kippe aus dem Fenster und sich selbst hinterher . Ganz zu schweigen von meinem Lieblingsspruch: Zerstreuter Anarchist stürzt aus Fenster .«
    »Ich bitte dich, Carla.«
    »Nein, denn hier geht es um ein Menschenleben. Nicht die Anarchisten sind die Schuldigen. Sie sind nur die Sündenböcke. Wie konnten vier arme Schlucker – wie ihr sie bezeichnet – einen so komplexen Plan aushecken mit vier quasi zeitgleichen Bomben in ganz Italien, dazu noch ganz hervorragend gebaute Bomben? Und apropos: Wie willst du mir erklären, warum die vierte Bombe, die in der Banca Commerciale, die nicht hochging, so schnell zur Explosion gebracht wurde? Wenn man den Sprengkörper nur ordentlich untersucht hätte, wäre man den Urhebern schnell auf die Spur gekommen. Die ganz gewiss aus Militärkreisen stammen …«
    »Machst du Witze? Ich war doch vor Ort, es bestand das Risiko, dass alles in die Luft flog, wir mussten sie so schnell wie möglich zünden!«
    Im Hause Santi jeden Abend dasselbe Programm. Streit und Geschrei. Jeden Tag warten die Zeitungen mit neuen, widersprüchlichen Details auf, und jeden Tag denkt die Polizei sich etwas Neues aus, damit es ins Bild passt. Oder anders herum. Verschwörungstheorien sprießen wie Pilze aus dem Boden.
    Bis eines Abends, ein paar Tage vor Weihnachten, Antonio nach Hause kommt und eine ganz andere Atmosphäre vorfindet. Carla hat Ragù gekocht. Sie küsst ihn und führt ihn zum Esstisch.
    »Heute wollen auch wir Frieden schließen, ja?«, sagt sie und schenkt ihm Wein ein.
    Antonio nickt.
    Es ist der 21. Dezember, und nach viermonatigem Kampf hat der Arbeitgeberverband Confindustria nachgegeben und eine Vereinbarung mit den Gewerkschaften getroffen. Das ist das Ende des heißen Herbstes, ein Sieg der Arbeiterschaft, die ihre Forderungen erfüllt sieht: Lohnerhöhungen für alle und Arbeitszeitverkürzung auf vierundvierzig Wochenstunden.
    Für viele von ihnen dürfte es eine glückliche Nacht sein. Für Antonios Bruder zum Beispiel, der fünfzig Tage Streik in vier Monaten hinter sich hat.
    Doch der bittere Nachgeschmack der Bombe verhindert, dass er sich richtig freuen kann.
    »Wir haben gewonnen«, sagt Giovanni zu sich selbst. Dann verstaut er die Gewerkschaftsfahne ganz hinten

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