Milano Criminale: Roman (German Edition)
Zellengenosse es ihm mit gleicher Münze heimgezahlt und ihm einen Riesenbären aufgebunden hat. Als Ergebnis hört er von einem Tag auf den anderen auf, wie ein Besessener zu quatschen, oder zumindest versucht er, sich in Robertos Anwesenheit zurückzuhalten.
2
Das Leben im Bau plätschert träge dahin, und Vandelli beobachtet fasziniert die Ausprägungen dieses verzweifelten Daseins hier drinnen, ohne Kontrolle, ohne Plan. Verurteilt zu Schuld und Sühne erinnern die Männer ihn an fahrende Ritter. Einsame Leidensgestalten, hart und gewissenlos, unterwegs zu einem Ziel, das den anderen verborgen bleibt.
Außerdem ist ihm klar, dass er allein durch Beobachtung nichts von dieser Welt lernen kann. Er muss mit ihr in Kontakt treten, muss sich die Hände schmutzig machen, deshalb darf er nicht zu lange warten. Im Knast findet der Ärger seinen Weg zu jedermann, fast wie ferngesteuert. Eines Nachmittags sieht er sich beim Hofgang plötzlich Auge in Auge mit dem Molosser.
»Für wen hältst du dich eigentlich, kleines Arschloch?«, wird er angeraunzt. »Siehst alle von oben herab an. In deinem Drecksviertel magst du ja ’ne Nummer sein, aber hier bist du ein Nichts, capito ?«
Vandelli sieht sein Gegenüber starr an: auf der rechten Wange eine Narbe von einer Schnittwunde, irgendwo zwischen dreißig und vierzig Jahre alt, den Schädel kahler als kahl und seinen Spitznamen aufgrund der starken Statur – gedrungener Körper und plattes Bulldoggengesicht. Geboren und aufgewachsen in Opera, in Mailands südlichen Außenbezirken, war er der Anführer einer Bande, die auf Tankstellen- und Tabacchi-Überfälle spezialisiert war. Schnelle Coups, ohne unnützes Risiko. Zumindest bis er nach einem Schusswechsel geschnappt wurde, bei dem ein Carabiniere verletzt wurde.
Bisher kann Vandelli sich über seine Behandlung in der Zwei nicht beklagen: Sein Ruf ist ihm vorausgeeilt, aus dem Jugendgefängnis und durch die geglückten Raubüberfälle. Niemand machte ihm Scherereien. Es war, als säße er schon ewig ein. Was dem einen oder anderen ein Dorn im Auge ist. Dem Molosser zum Beispiel, der nicht lange drum herumredet. Er versetzt dem Jungen einen so heftigen Stoß, dass er ein paar Meter zurücktaumelt.
Vandelli macht den verlorenen Raum wett. Er senkt nicht den Blick, geht nicht auf Abstand. Im Gegenteil, er greift an mit einem Kopfstoß, der selbst ein Pferd umgeworfen hätte. Nicht so den Molosser, dem das nichts anzuhaben scheint und der ungleich härter reagiert.
Bei Vandelli gehen die Lichter aus. Der Schlag ins Gesicht streckt ihn auf den gelben Grasresten auf dem Hof nieder. Die anderen Häftlinge tun so, als sähen sie nichts; die Wärter verfolgen die Szene gespannt.
Als der Junge wieder zu sich kommt, ist der Molosser weg. Ein Wärter beugt sich über ihn.
»Alles in Ordnung, Junge? Soll ich dich auf die Krankenstation bringen?«
Er reicht ihm ein Taschentuch, mit dem Roberto den Blutstrom stoppen kann, der ihm aus dem Mund rinnt. Er ist sich nicht sicher, ob er einen Zahn verschluckt hat, lehnt jedoch jede Hilfe ab. Er rappelt sich auf und geht zu seinem Zellentrakt.
Am nächsten Tag, wieder beim Hofgang, wiederholt sich die Szene. Dem Molosser juckt es immer noch in den Fingern; er nimmt Roberto beiseite und lässt ein Himmeldonnerwetter über ihn niedergehen. Der Junge will sich wehren, doch es ist ein ungleicher Kampf mit dem Muskelprotz. David gegen Goliath, nur dass der Kleine keine Steine zum Werfen dabeihat. Ein Faustschlag des Riesen reißt ihm die Augenbraue auf und verwandelt sein Gesicht in eine bluttriefende Maske. Die anderen feuern den Kampf mit Lachen und Gegröle an, umringen die beiden so, dass die Wachleute nichts sehen können. Nach ein paar Minuten jedoch macht der Menschenauflauf sie misstrauisch, und fünf Aufseher mit Trillerpfeifen und Schlagstöcken kommen heran. Sie vertreiben die Schaulustigen und finden Vandelli am Boden liegend, verdreckt und blutüberströmt.
Dieses Mal muss er auf der Bahre zur Krankenstation gebracht werden. Die Wunde über dem rechten Auge wird mit drei Stichen genäht, zwei Rippen sind angebrochen.
»Vandelli, wer hat dich so zugerichtet?«, fragt ihn der Oberaufseher.
»Niemand, ich muss gestolpert sein.«
»Red keinen Bockmist. Sag, wer dich zusammengeschlagen hat, und wir schicken ihn in die Arrestzelle.«
»Leck mich, Bulle, ich bin kein Verräter.«
Der Wärter läuft rot an.
»Ach, so ist das? Weißt du, was ich dir sage, du Dreckstück? Dann
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