Milano Criminale: Roman (German Edition)
schweißnassen Händen kontrolliert Vandelli die Karten. Ohne viele Worte wird gesetzt. Niedrige Eröffnung, zwanzigtausend pro Kopf.
Der Junge vom Giambellino lässt sich zwei Karten auswechseln. Er hat schon drei Neunen auf der Hand und bekommt nun eine vierte. Poker.
Er lässt sich nichts anmerken; er schaut auf und forscht in den Gesichtern der Mitspieler. Auch sie undurchdringlich.
» Jammé , komm schon, Robé, willst du warten, bis wir schwarz werden? Du bist dran!«
Vandelli schiebt sein gesamtes Geld in die Mitte des Tisches. Dreihunderttausend.
»All In«, verkündet er.
Die anderen beiden wechseln einen Blick. Im Pokerjargon bedeutet »All In« alles aufs Spiel setzen, doch im Bau hat derselbe Ausdruck einen wesentlich prägnanteren Wert, vor allem für Bankräuber beinhaltet die Wendung eine ganz persönliche Weltsicht. Worin die besteht, hat Roberto vom Molosser erfahren. Bei dem Thema schien sein faltiges Gesicht sich zu entspannen.
»All In ist die Art und Weise, wie man das Leben und die Wirklichkeit nimmt. Das ist die Philosophie der Gang: zusammen sein und alles teilen. Ohne Boss, alle sind gleich. Es gibt einen Film, den musst du sehen, Junge, wenn du kapieren willst, worum es geht: The Wild Bunch – Sie kannten kein Gesetz . Wir sind die wilde Horde, gehen immer ans Limit; was zählt, ist die Freundschaft und die Weigerung, die Hierarchien der alten Unterwelt anzuerkennen, die immer nur dieselben Unterdrückungssysteme hervorbringen. Wir guten Jungs in den Gangs«, so war er mit stolzer Stimme fortgefahren, »haben unseren eigenen Lebensstil. Alles beruht auf der Idee des Konflikts, der Herausforderung ohne Kalkül, einzig mit der Verpflichtung, uns gegenseitig zu decken. Verstehst du, was ich meine?«
Vandelli lauschte mit offenem Mund dem Vortrag des Molossers. Was der da beschrieb, war in der Theorie seine Welt, ohne dass er es gewusst hatte. Damals hatte er begriffen, dass er von dem Narbengesicht wertvolle Dinge lernen konnte. Nicht zuletzt auch im musikalischen Bereich. Denn die Philosophie des Molossers beinhaltete auch Janis Joplin, Jim Morrison und die Rolling Stones; und die mochte Vandelli allesamt. Wie auch die anderen, um ehrlich zu sein. Nur vom Poker war er nicht sonderlich begeistert, doch er gab sich Mühe und setzte gnadenlos sämtliche Ersparnisse ein. Seiner Ausbildung zuliebe.
An diesem Abend aber würden die Dinge sich ändern, mit einem Poker auf der Hand.
»Wer geht mit?«, fragt er und bemüht sich, seinem Tonfall keinerlei Erregung anmerken zu lassen.
Der Molosser und der Neapolitaner schütteln die Köpfe; sie steigen aus, und so trägt Roberto einen wirklich mageren Pot nach Hause. Um sich nicht lächerlich zu machen, zeigt er keinem, was er auf der Hand hat, sondern mischt lieber schnell. Die anderen aber haben ihn durchschaut und feixen belustigt.
»Junge, so funktioniert das nicht«, ermahnt ihn der Neapolitaner mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. »Du hast dich selbst reingeritten mit deinem voreiligen Sprüchlein. Es war klar, dass du nicht bluffst, sondern wirklich was auf der Hand hattest. Zu eilig; du hättest uns ordentlich ausnehmen können, wenn du dir Zeit gelassen hättest. Ich habe dir doch gesagt, Poker ist wie das Leben, oder? Um andere dranzukriegen, musst du erst selbst in die Scheiße reiten. Nun t’ ’o scurdà , vergiss das nicht.«
6
Giovanni bringt seine Frau mit. Sie haben sich auf den Barrikaden kennengelernt, damals während der Streiks und Demonstrationen. Sie steht am Fließband bei Pirelli, ist nicht gerade eine Schönheit, doch ihm hat sie sofort gefallen. Einklang und Solidarität. Im Mai haben sie geheiratet, und da sind sie nun, mit einem großen Eisbecher und einer Flasche Sekt. Antonio und Carla bitten sie herein. Nach den üblichen Höflichkeiten ziehen sich die Frauen zum Plaudern in die Küche zurück, während die Brüder es sich auf dem Sofa gemütlich machen.
Carla ist hochschwanger, die Geburt rückt näher, und sie und ihr Mann suchen noch nach einem Namen. Zwei stehen zur Auswahl: Nicolò, in Erinnerung an Martinez, wenn es ein Junge wird, Beatrice für ein Mädchen. In der Küche reden sie über das Ungeborene, während die Männer an diesem Abend anderes im Kopf haben. Die Nationalelf steht im Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft, des Coupe Jules Rimet, Italien gegen Deutschland live aus Mexiko. Obwohl es schon elf Uhr abends ist, gehen sie immer noch ein vor Hitze, was sie mit eisgekühlten
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