Milano Criminale: Roman (German Edition)
nicht – genauso wenig wie die Italiener vor den Mattscheiben. Jedermann weiß, dass dieser Fehler sie das Finale kosten kann.
In dem Wohnzimmer der Santis ist es totenstill geworden. Alle im Raum sind Inter-Fans und würden diesem Rivera vom AC Mailand am liebsten den Skalp über die Ohren ziehen.
»Kommt schon, noch ist Zeit«, seufzt Antonio schließlich.
Die folgende Reaktion der italienischen Nationalelf ist großartig und anrührend. In einer konzertierten Aktion kontern sie nicht einmal sechzig Sekunden nach dem Gegentreffer: Der Ball kommt im Mittelfeld wieder ins Spiel, elf Pässe ohne Eingreifen der Deutschen und Abschluss durch Rivera, der flach an Maier vorbeischiebt. Das Tor beschließt die Partie, Vergebung der Sünden.
4:3-Endstand für Italien, das nach zweiunddreißig Jahren endlich wieder im Finale des Coupe Jules Rimet steht. Es ist ein Jahrhundertspiel, weil es das Jahrhundert umkehrt, indem die Deutschen die unterlegenen Schwachen sind und die Azzurri die siegreichen Panzer. Ganz Italien ist im Rausch.
Antonio und sein Bruder fallen sich in die Arme, dann küssen sie ihre Frauen, um anschließend wie irre die Treppe hinunterzustürmen.
Das Echo des Ereignisses ist riesengroß. Es steckt sogar die mexikanischen Fans an, die spontan beschließen, eine Gedenktafel vor dem Azteken-Stadion zu platzieren, auf dem dieses Spiel verewigt werden soll, das so sehr die Begeisterung der Lateinamerikaner für Kampf und Spektakel befeuerte.
In den Straßen Italiens liegt der Duft der Revanche. Europa ist für die Italiener immer noch ein Land der Träume, Fliegen ein Privileg; ein Ort, an dem man sich trotz eines schwindelerregenden Wachstums des Bruttosozialprodukts nicht von der Rolle der einfallsreichen Bettler freimachen kann. Um sich dem Westen nahe zu fühlen, brauchte Italien eine große Bestätigung, und heute Abend hat es diese dank König Fußball bekommen. Ein historisches Ereignis, ein selten fröhliches Highlight in einem Land, das noch vor sechs Monaten von einer Bombe auf der Piazza Fontana in Angst und Schrecken versetzt wurde.
Heute Nacht scheint das alles vergessen zu sein, auch für die, die Fußball nicht interessiert. Heute haben sie die Krautfresser das Fürchten gelehrt, nach all den Jahren der Streiks, Demonstrationen und des Blutvergießens, und so kommen die Italiener auf den Plätzen zusammen, selbst Einzelgänger und jene, die Massenaufläufe eigentlich meiden, denn in diesem Moment gibt es nur eins: sich freuen, alle gemeinsam. Heute steht die Polizei nicht in Reih und Glied bereit, heute gibt es kein Tränengas und keine Schlagstöcke.
Antonio und Giovanni in ihrem Fiat 500 schreien vor Glück, als überließen sie ihr Schicksal tatsächlich der Tricolore, der Fahne, an die sie seit vielen Jahren und aus verschiedenen Gründen nicht mehr geglaubt haben.
Vandelli und die Jungs von der Piazza Tirana knacken einen Mercedes und kurven unter Gehupe die ganze Nacht herum, durch ein Mailand, das lebendiger ist denn je, farbenfroh und voller Freude. Eine Stadt, die Tausende Fahnen schwenkt und die zumindest für diese eine Nacht ihre unterschiedlichen politischen Überzeugungen zu Hause lässt.
In diesen Stunden sind die Italiener weder links noch rechts, dem Fußballgott sei Dank: Kurzgeschnittene Pilzköpfe sind okay, die Lieder von Lucio Battisti und auch die reaktionären Celentano-Songs, der das Festival von San Remo mit einem Aufruf gegen die Streiks gewonnen hat, Chi non lavora non fa l’amore , der ganz übersieht, dass auch die Frauen streiken.
Alles vermischt sich im großen Strudel der Euphorie; Italien geht auf die Straße und lacht, liegt sich in den Armen, küsst sich und denkt nicht an morgen.
Tupamaros
1
Der Bildausschnitt zeigt nur Schmutz und Staub.
›Schrecklich wahr‹, denkt Vandelli, der gebannt auf die Bilder der berittenen Revolverhelden starrt, die über die Kinoleinwand im Plinius flackern. Der Junge vom Giambellino ist pure Empathie: Diese Männer, die weder Gott, Vaterland noch Familie kennen, elektrisieren ihn sowohl durch das, was sie tun, als auch wie sie vereint der Gefahr ins Auge sehen. Allen voran bewundert er den Anführer, Pike, der zusammen mit seiner Bande gerade die Eisenbahnbank ausgeräumt hat.
»Der Molosser hatte recht. Dieser Film bringt die Philosophie von uns Bankräubern auf den Punkt«, sagt er in der Pause zu den anderen. »Wir müssen werden wie sie!«
Im Kino mit Vandelli sind Nina – ihre Beziehung läuft wieder
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