Milano Criminale: Roman (German Edition)
nun sind sie da, nur noch ein paar Minuten bis Mitternacht, wenn ihr vierter Hochzeitstag zu Ende geht.
»Wusstest du, dass der Pont Neuf, anders als der Name suggeriert, die älteste Brücke von Paris ist?«
Antonio drückt seine Frau eng an sich, die trotz ihres dicken Mantels vor Kälte bibbert.
Zwei Stunden zuvor saßen sie noch in einem kleinen Restaurant auf der Place du Tertre in Montmartre, von dem man einen wunderbaren Blick auf Paris hat. Dann sind sie zu Fuß die lange Treppe hinuntergegangen und durch Paris zur Seine spaziert, während sie sich an der Stadt der tausend Lichter labten: die überfüllten Cafés von Pigalle, die Juweliere am Place Vendôme, der Obelisk auf der Place de la Concorde und schließlich an der Seine entlang bis zum Louvre, während die Boote langsam über den Fluss schippern.
Die zwei folgenden Tage sind Emotionen pur. Antonio raucht ganz pariserisch Gitanes papier maïs , die mit dem gelben Maispapier. Carla kauft sich eine schwarze Baskenmütze, die drei Viertel ihres Kopfes unbedeckt lässt, und dem Ehemann schenkt sie einen breitkrempigen Hut, mit dem er aussieht wie Jean Gabin. Sie essen Austern und trinken Weißwein, wann immer sie ein kleines Bistro mit roter Markise sehen, auch zwei, drei Mal am Tag. Am Morgen frühstücken sie buttrige Croissants und Kaffee in immer anderen Lokalen, und sie bleibt bei jeder Gelegenheit stehen, um bei den bouqinistes an der Seine schmale Bücher zu kaufen. Das Quartier Latin wird ihnen zur zweiten Heimat, so viel Zeit verbringen sie hier, spazieren Hand in Hand umher oder wärmen sich in einem der Cafés mit den großen Fenstern und runden Tischchen auf, oder sie stöbern in der Bohème-Buchhandlung Shakespeare & Company, wo schon Hemingway zwischen den Regalen zu Hause war.
Eines Abends treten sie aus der Buchhandlung und wenden sich Richtung Hôtel de Ville, wo Carla unbedingt das berühmte Doisneau-Foto Der Kuss nachstellen will. Sie laufen den Quai des Orfèvres entlang, eine der großen Straßen auf der Île de la Cité in der Nähe von Notre Dame. Als Antonio das Schild an dem Gebäude liest, kann er sich einen Kommentar nicht verkneifen.
»Schau nur, wo die Polizei hier ihren Sitz hat. Mitten im Stadtzentrum. Präfektur und Gerichtsgebäude. Und da ist sogar noch das Kommissariat!«
»Lass dich doch versetzen«, lacht sie. »Ich bin dabei!«
Das Foto schießt ihnen ein deutscher Tourist, nach langen Erklärungen was und wie genau sie aufs Bild sollen, dann spazieren sie untergehakt weiter bis zu ihrem Hotel auf dem Boulevard des Italiens. Ihr Zimmer liegt im sechsten Stock des Gebäudes und geht auf die grauen Dächer mit ihren aufragenden Gauben hinaus.
»Hier weht der Wind der Revolution, riechst du das?«, sagt die Frau jeden Abend, wenn sie das Fenster öffnet.
Wenige Schritte von ihrer Unterkunft entfernt, hinter dem Opernhaus, liegt das Kaufhaus Lafayette mit seinen glitzernden Auslagen und Versuchungen, bei denen selbst Carlas linksgerichteter Sinn dem Mondänen nicht widerstehen kann und sie Geschenke für die ganze Familie kauft. Beatrice bekommt zum Wiedersehen einen rosafarbenen Strampler mit einem aufgestickten Eiffelturm.
Die restliche Zeit widmet das Paar der Besichtigung von Museen und Sehenswürdigkeiten. Viele Stunden lang laufen sie durch den Louvre, bis sie Blasen an den Füßen haben, um ein Bild von sich neben der Mona Lisa zu machen, neben der Venus von Milo oder der Sphinx von Tanis in rosafarbenem Granit. Dann der Eiserne Turm, sämtliche Treppenstufen, eine nach der anderen bis ganz nach oben, um die Stadt zu ihren Füßen aus der Höhe zu bewundern. Die Lichter der Champs-Élysées, die Autoscheinwerfer, die Bateaux Mouches auf der Seine, das Rund des Panthéons, die schlanken gotischen Formen der Sainte Chapelle, der mächtige Bogen des Arc de Triomphe – alles eingehüllt in die dominierende Farbe der Lichterstadt: das gelbe Paris.
Und schließlich Antonios zweite Überraschung, am Trocadéro. Wie sie staunt und wie stolz er ist, dass ausnahmsweise er mal seiner Frau etwas beibringen kann.
Mit seinen Händen hält er ihr die Augen zu und führt sie an einen bestimmten Punkt.
»Jetzt darfst du sie aufmachen.«
Fasziniert sieht die Frau die goldfarbenen Briefe, die im Halbkreis an der Gebäudefassade kleben. Auf jedem Blatt eine Aufschrift. Von ihrem Standort aus kann sie Folgendes lesen:
Dans ces murs voués aux merveilles
J’accueille et garde les ouvrages
De la main prodigieuse de
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