Milano Criminale: Roman (German Edition)
l’artiste
Égale et rivale de sa pensée
L’une n’est rien sans l’autre.
Carla kennt die Verse: Sie stammen von Paul Valéry, dem Dichter, von dem ihr Antonio vor vielen Jahren ein Buch geschenkt hat, in jener Nacht im Mailand der scighera und der grünen Trambahnen: ihrer ersten Verabredung.
Und dann folgt ein Kuss von der Sorte, wie man sie nur selten erlebt, intensiv, tief, ganz im Bann des Ortes, an den man vielleicht nie mehr zurückkehren wird. Der Kreis schließt sich.
»Ich liebe dich«, flüstert Antonio.
Sie lächelt glückerfüllt, während ihr eine kleine Träne über die Wange rollt.
Fehlt nur noch Mina, die im Hintergrund La voce del silenzio singt, Carlas Lieblingslied, um alles perfekt zu machen, doch innerlich hört sie die Melodie auch so.
3
Die Landebahn ist nicht zu sehen. Der Nebel um Antonio ist so dicht, dass er glaubt, in den Treibsand einer endlosen Wüste einzutauchen, als das Flugzeug zum Landeanflug auf Linate ansetzt.
Carla ist entspannt, sie hat die Augen geschlossen und hält Antonios Hand.
»Wird schon gutgehen«, flüstert sie ihm zu, als sie seine Anspannung spürt. »Und was bist du überhaupt für ein Bulle, wenn du Angst vor so ein bisschen Nebel hast?«
Sie hat natürlich recht, doch Santi kann sich nicht entspannen.
›Es wird schon einen Grund geben, warum der Mensch keine Flügel hat‹, denkt er sich.
Kaum setzt das Fahrgestell auf den Boden auf, kehrt die Farbe in Antonios Gesicht zurück, und er landet widerwillig in der Realität: Zehn Meter entfernt erwartet ihn Sovrintendente Pugliesi im Wagen.
»Seit wann hast du einen Chauffeur, der dich abholen kommt?«, fragt Carla sarkastisch.
»Hab ich nicht. Da muss etwas passiert sein.«
Der Commissario steigt schnell die Stufen hinab und beugt sich fragend zum Polizeibeamten. Eine Minute später steht er wieder bei seiner Frau.
»Wir bringen dich nach Hause.«
»Nein, lass nur. Ich nehme mir ein Taxi und lasse mich zu meinen Eltern und der Kleinen fahren.«
Er sieht sie an.
»Tut mir leid.«
»Aucune importance« , murmelt sie und streicht ihm sanft über den stacheligen Dreitagebart. »Ich weiß, dass du wegmusst.«
Eilig drückt Antonio ihr einen Kuss auf die Lippen, dann entfernt er sich und wird vom Nebel verschluckt.
Während das Polizeiauto mit Blaulicht und Martinshorn Richtung Quarto Oggiaro rast, taucht Santi wieder in seine Polizeiwelt ein. Wie ein Kleidungsstück, das man nach langer Zeit aus dem Schrank nimmt und überstreift und das immer noch genau passt. Ein Augenblick ist genug, schon ist Paris vergessen, und ein Gedanke steigt übermächtig aus seiner Erinnerung auf: die Botschaft, die die Banditen nach dem Banküberfall von der Piazza Cordusio zurückgelassen haben. Er hat den Zettel aufgehoben, er liegt gut sichtbar auf seinem Schreibtisch im Polizeipräsidium, damit er ihn nicht vergisst. Er muss Zeugen und Beweise finden, um Vandelli festzunageln, denn eine Botschaft allein genügt dafür nicht. Sie hat keine Unterschrift und wurde auf der Schreibmaschine getippt.
»Das kann jeder gewesen sein«, würde selbst der unfähigste aller Verteidiger vorbringen. Und Santi hat keine große Lust, sich vor dem Richter lächerlich zu machen.
Zwanzig Minuten später steigen die beiden Polizeibeamten aus dem Wagen und betreten den Supermarkt. Chaos überall: Waren auf dem Boden, zerbrochene Schaufenster, umgeworfene Regale und die Angestellten noch immer unter Schock.
»Wann war das?«, fragt Santi.
»Vor knapp zwei Stunden.«
»Erzähl mir alles.«
Pugliesi skizziert grob den Ablauf des Überfalls, dann fährt er fort: »Mein Eindruck ist, dass wir es hier mit Spezialisten zu tun haben. Klare Abläufe, ruhiges Blut. Was mir allerdings nicht in den Kopf will, ist, warum sie derart ausgeflippt sind, nachdem sie das Geld hatten; sie haben alles, was ihnen in den Weg kam, mit Fußtritten traktiert, einschließlich der Frauen. Völlig grundlos. Und das ist noch nicht alles: Als sie hinausgingen, haben sie eine weitere Maschinengewehrsalve abgegeben. Schau dir das an«, und er bohrt den Finger in ein Loch in der Wand, »das war ein Projektil. Die Verrückten haben in Mannshöhe geschossen. Wäre einer der Leute aufgestanden, wäre er jetzt tot.«
Die Miene des Commissario bleibt ausdruckslos.
»Was wissen wir sonst noch über die Täter?«
»Wenig, sie waren vermummt und haben keine Spuren hinterlassen. Den Zeugen zufolge sind sie von hier, ihrer Sprache nach zu urteilen. Sie wurden als
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