Milano Criminale: Roman (German Edition)
viele, und der Commissario weiß genau, wo er sie findet.
Zurück im Büro, schließt Nicolosi die Tür hinter sich und kommt bis spät in der Nacht nicht mehr heraus.
3
Zwei leere Espressotassen und die Schlagzeilen der Titelseite auf dem Kaffeetisch.
Antonio hat den Artikel schon dreimal gelesen. Ihm gegenüber sitzt Mario Basile, Reporter von ›La Notte‹. Er ist entschieden gealtert, riecht aus dem Mund, und den gelben Augen nach zu urteilen hat seine Leber auch schon bessere Zeiten erlebt. Sicherheitshalber tränkt er sie trotzdem bereits morgens um acht mit Fernet.
Antonio begnügt sich mit Kaffee, er ist schließlich im Dienst: Immerhin ist das hier ein Arbeitstreffen. Gegenseitiger Informationsaustausch; eine Hand wäscht die andere und so weiter. Obwohl er noch nicht lange bei der Mailänder Polizei ist, hat der Junge bereits kapiert, wie der Hase läuft: Ohne Informanten und Vertraulichkeiten von Seiten der Presse geht gar nichts. Nicolosi docet.
Daher weiß auch sein Vorgesetzter, dass er hier ist, und er begrüßt es. Andererseits aber hat er ihn vielleicht auch einfach hinausgeschickt, weil er ihn los sein wollte, um eigene Ermittlungen anzustellen.
»Die Gang ist nicht von hier«, war das Einzige, was Santi ihm am Abend zuvor entlocken konnte. Und damit musste er sich zufriedengeben.
Nun versucht Antonio, sich auf den Artikel vor seiner Nase zu konzentrieren.
Basile und seine Redaktionskollegen haben den Überfall in der Via Montenapoleone bis ins kleinste Detail rekonstruiert. Der Verleger hat sie dutzendweise zum Tatort geschickt, ausgerüstet mit Spielzeugpistolen, Mietwagen und sogar Sturmhauben. Ziel: eine detailgetreue fotografische Nachstellung des Geschehens im Interesse der Öffentlichkeit. Es wirkt wie ein Fotoroman: die Ankunft, die Schüsse, die berstenden Scheiben, die Flucht. Alles.
Die Polizei hat sie unterstützt und den Verkehr für die Zeit, die es brauchte, umgeleitet. Alles war perfekt organisiert, und das Extrablatt am Morgen ist im Nu vergriffen: Wer zu spät kommt, muss auf den Nachdruck am Nachmittag um vier warten.
Jede Sekunde des Überfalls wurde fotografisch dokumentiert. Außerdem wurden unter Mithilfe der Polizei die Phantombilder der nicht vermummten Verbrecher veröffentlicht. Die Fahrer der Alfas.
»Was hältst du von der ganzen Sache?«, fragt Antonio.
Basile bestellt eine dritte Runde. Er weiß, dass der Bulle die Rechnung übernimmt, er hat ihn ja angerufen. Das ist doch das Mindeste.
»Sie sind nicht von hier.«
Antonio schluckt; er scheint der Einzige zu sein, der sie für Mailänder hält. Schweigend zündet er sich eine Esportazione an, dann stellt er die unvermeidliche Frage.
»Warum nicht?«
»Wegen des Spektakels. Zu viel Lärm, zu viele Schüsse, zu viel Durcheinander. Das ist nicht der Stil der hiesigen Unterwelt.«
»Also nur so ein Gefühl?«
»Ein paar Zeugen gibt es auch: Sie wollen gehört haben, wie die Gangster untereinander eine andere Sprache gesprochen haben.«
»Welche?«
»Französisch.«
»Und wenn das ein Trick ist, um die Ermittlungen in die falsche Richtung zu lenken?«
»Klar, möglich wär’s.«
Die Miene des Reporters scheint jedoch etwas anderes auszudrücken, wenngleich man nie genau weiß, was er denkt; er hat zu viel gesehen, um sich aufzuregen, zu wundern oder auch nur ein wenig aus seinem Stumpfsinn zu erwachen. Ihm ist mittlerweile alles egal, ihn interessiert nur der Trost des treuen Fernet. Der beschert einem wenigstens keine bösen Überraschungen. Gangster sind das Letzte, woran er denkt.
Antonio steht auf. Er legt das Geld für die Getränke auf den Tisch.
»Frohes Schaffen, Mario.«
»Ciao, Jungchen. Ich hoffe, du bist derjenige, der sie schnappt.«
In der Questura steht Nicolosis Bürotür sperrangelweit offen. Der Commissario lehnt am Fenster und raucht.
»Und?«, fragt er, als er Antonio sieht.
»Er meint, sie haben Französisch geredet.«
»Genau das wurde mir auch berichtet.«
Er deutet auf einen Aktenordner auf seinem Schreibtisch. Auf dem Rücken steht mit rotem Filzstift: »Der Marseille-Clan«.
4
Als er die Liste mit den Namen durchgeht, fühlt sich Antonio wie in einem Autorenfilm von Carlo Lizzani. Er ackert sich durch die Verbrecherkartei, die Nicolosi von der Gendarmerie in Marseille bekommen hat, und wundert sich, dass alles anders ist als gedacht.
Der mutmaßliche Kopf der Bande trägt den Spitznamen Jo Le Maire, ist aber im italienischen Baggio geboren und steht als Guido
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