Milano Criminale: Roman (German Edition)
Katy.
6
»Ich bin ein Junge von der Straße, doch spielen darfst du nicht mit mir …«
Vandelli singt und schießt, schießt und singt.
Dieses Lied von den Corvi ist für ihn zu eine Art Mantra geworden. Er hat es am Vorabend in der Juke-Box in einer Bar an der Piazza Tirana gehört und sich sofort darin wiedererkannt: Der Junge von der Straße ist er, und die jungen Weibsbilder sollen sich bloß in Acht nehmen.
Immer wieder hat er Geld in den Automaten geworfen, bis er es schließlich auswendig konnte, als so ein Typ, genervt von dem ewig gleichen Stück, ihm sagte, er solle damit aufhören oder er riskiere was Gepfeffertes zwischen die Ohren.
Vandelli hatte ernst genickt und das Lokal verlassen. Damit schien der Fall erledigt, das Jüngelchen zieht den Schwanz ein und schwirrt ab, doch in Wirklichkeit ist er nur in den Keller seines Hauses gegangen, um die P 38 zu holen, in ein Tuch gewickelt und sorgfältig geölt. Dann kehrte er in die Bar zurück und ließ dasselbe Lied noch einmal laufen.
Der Typ stand auf.
»Willst du mich verarschen, Junge?«
Gewaltiger Rumpf und Arme wie Baumstämme. Der Riese wollte sich gerade zu ihm hinunterbeugen und ihn packen, als ihn der Lauf der P 38 zwischen den Eiern zu Zurückhaltung zwang.
»Wenn wir uns beruhigt haben«, hatte Vandelli gesagt, »könnte ich dir sagen, worauf ich Lust hätte: dich singen zu hören.«
Der Riese wurde kreidebleich. Roberto presste ihm das Schießeisen noch fester in die Weichteile.
»Weißt du, was wir jetzt machen? Wir werfen in diese Schrottkiste alle Geldstücke, die du hast, und jedes Mal singst du mein Lied. Hast du Lust?«
Der andere leerte stumm und schweißgebadet seine Hosentaschen auf dem Tisch aus.
Niemand in der Bar wagte zu atmen. Das sollten die zwei mal schön unter sich ausmachen.
»Gut, wir haben Glück. Du darfst sechsmal singen. Zufrieden?«
Ein Stoß mit der Knarre entlockte dem Mann ein Nicken.
Die erste Münze fiel in den Schlitz.
»Und noch ein kleiner Tipp: Du solltest dir schon ein wenig Mühe geben, denn sonst sorg ich dafür, dass deine Stimme nicht einmal mehr in den Kirchenchor passt, klar?«
Der Riese fing zu singen an, und nun erst konnten die anderen Gäste sich nicht mehr zurückhalten und brachen in herzhaftes Gelächter aus.
Der Clan
1
Es ist ein ungewöhnlich kalter Aprilmorgen. Der echte Frühling lässt noch auf sich warten, und die Leute spazieren in Wintermäntel gehüllt durch die Straßen der Innenstadt. Blütenduft liegt in der Luft. Der Wind hat ihn herangetragen, wer weiß woher, bis vor die glitzernden Auslagen der Modedesigner entlang der berühmten Via Montenapoleone.
Vielleicht weht er von den Terrassen und kleinen Gärten herüber, die sich hinter den wuchtigen Toren der Palazzi verbergen.
Niemand rechnet damit, dass dieselbe Luft in nur einer Minute erfüllt sein wird vom Gestank nach Blei. Nach Rauch und Kordit wie zu Zeiten des Bombenhagels über Mailand.
Doch genau das geschieht, als vier Alfa Romeo Giulias vor dem Juweliergeschäft Colombo bremsen und Salven von Maschinenpistolen in den Himmel dreschen. Die Passanten geraten in Panik. Das hier ist ja nicht etwa der Giambellino oder Quarto Oggiaro! Das hier ist der Empfangssalon der Stadt, das unangreifbare Aushängeschild Mailands, hier hat es solche Sachen noch nie gegeben.
Die Autotüren springen auf und Schüsse fallen, endlos. Manche Leute werfen sich zu Boden oder verstecken sich hinter den wenigen am Straßenrand geparkten Autos, während drei bewaffnete und maskierte Männer in das Juweliergeschäft eindringen und Geld und Schmuck einsacken. Die Aktion verläuft planmäßig, fast militärisch. Draußen kontrollieren weitere um sich schießende Komplizen die Straße: Zwei der Wagen sind so postiert, dass sie den Verkehr auf der Via Montenapoleone und der kreuzenden Via Verri sperren.
Ein bemerkenswert hoher Aufwand an Mitteln angesichts der nur wenige Minuten dauernden Aktion, an deren Ende zwei der vier Autos mit Vollgas davonrasen und einen Teppich aus Projektilen zurücklassen. Und man kann nur von einem Wunder sprechen, dass es keine Toten und Verletzten gegeben hat.
Agente Nicolò Martinez – der sich vor Ort, aber nicht im Einsatz befindet, sondern gerade die Stadt besichtigt, in die er erst kurz zuvor versetzt wurde –, er also meint, es habe der Duft nach Primeln und Veilchen in der Luft gelegen, was ihn an sein Heimatdorf im Umland von Verona erinnert habe.
Weiterhin meint Martinez, der
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