Milano Criminale: Roman (German Edition)
Raso im Melderegister. Sein Vize hingegen, ein alter Bekannter der französischen Kollegen, ist in Marseille geboren, hat aber italienische Wurzeln: René Bellini, genannt der Marseiller. Einer, der von Kindesbeinen an im Gefängnis ein und aus geht, der vom Diebstahl ebenso viel versteht wie vom Ausbruch, das letzte Mal erst wenige Wochen zuvor aus der Haftanstalt von Melun. In dem Bericht vermutet man, dass der Mann Frankreich verlassen hat, um sein Glück in Italien zu suchen, wo er sich Rasos Bande angeschlossen hat.
Das Informationsschreiben ist sehr detailliert: Raubüberfälle wie die in der Via Montenapoleone scheint es an der Côte d’Azur schon einige gegeben zu haben, vor allem in Nizza und Montecarlo.
»Sie haben das Modell nach Italien exportiert?«
»Könnte man so sagen«, erwidert Nicolosi und lässt sich am Schreibtisch nieder.
»Was sagen Ihre Informanten?«
»Die Waffen kommen von außerhalb. Und die Munition auch.«
»Und wie sollen wir vorgehen?«
»Erst einmal gehen wir allen Hinweisen nach. Und versuchen herauszufinden, wo sich Bellini und Raso verstecken.«
Nach ein paar Tagen bringen die in den Zeitungen veröffentlichten Phantombilder erste Erfolge: Einer der Überfallfahrer wird identifiziert. Ein Zeuge sagt aus, er hätte ihn in einem Haus an der Piazzale Susa gesehen.
Während sie im Zagato zur Festnahme fahren und Morandi im Radio Andavo a cento all’ora singt, erzählt Nicolosi irgendetwas von wegen Dominoeffekt.
»Wenn das erste Steinchen kippt, folgen die anderen bald nach, du wirst schon sehen.«
Nach der Befragung des Verdächtigen versteht Antonio, warum. Seine Kollegen fassen die Verbrecher nicht mit Samthandschuhen an: Sie hinterlassen keine Kratzer, wissen aber, wo es weh tut.
Der Commissario verfolgt das Ganze durch die Scheibe. Er gehört noch zur alten Schule. Es ist kein Weltuntergang, wenn diese Leute hart angefasst werden. Im Bunker haben sie von ihren Zellengenossen noch ganz anderes zu erwarten oder fügen es selbst ihren Knastbrüdern zu.
Diesen Zynismus hat er sich mit den Jahren zugelegt: Er schöpft aus den Erfahrungen in der Via Osoppo, und er weiß, womit er seine Informanten locken kann, diese Sprachrohre der Unterwelt – oder wie er sie in Schrecken versetzt, je nachdem. Und die Resultate bleiben nie aus.
Im Laufe von acht Tagen sitzen sämtliche Gangster hinter Gittern, dank der zahlreichen Hinweise, die auf offiziellem und inoffiziellem Wege eingehen.
Bellini und Raso erwischen sie bei Giannino, dem In-Restaurant von Politikern und Kriminellen. Sie sitzen mit Champagner, Langusten und zwei Animierdamen beim Essen. Beim Anblick der Uniformierten verziehen sie keine Miene. Das gehört zum Spiel.
Antonio legt dem Marseiller die Handschellen an, während dieser mit amüsiertem Grinsen Nicolosi mustert.
Auf dem Präsidium kriegen sie nichts aus ihm heraus. Trotz nicht gerade orthodoxer Verhörmethoden. Er verdient sich den Spitznamen ›Steinlippe‹, indem er stundenlang ermüdendsten Befragungen standhält, ohne eine Silbe auszuspucken. Sein Kumpan hingegen ist umgänglicher. Nach nicht einmal drei Stunden Spezialbehandlung erzählt er alles. Aufgerollte Telefonbücher, als Knüppel in der Magengegend angewandt, entwickeln enorme Überzeugungskraft. Mit dem Vorteil, dass sie keine blauen Flecken hinterlassen.
Nicolosi ist dennoch unzufrieden. Die Gangster sind hinter Schloss und Riegel, doch von der Beute tauchen nur Bruchstücke auf, gerade einmal zehn Millionen Lire.
Jo Le Maire erzählt, dass ein Großteil der Beute nach Paris ausgeflogen wurde, am Morgen nach dem Raubzug, verborgen in den Windeln des Säuglings einer marokkanischen Tänzerin. Und er lächelt höhnisch, als er berichtet, dass der Überfall ein ›gedecktes‹ Unternehmen war, eine Auftragsarbeit. Die Schmuckstücke von Juwelier Colombo waren schon an einen Pariser Hehler verkauft, als sie noch im Schaufenster in der Via Montenapoleone lagen.
Nicolosi lässt ihn mit einer zornigen Handbewegung abführen.
Am nächsten Morgen überfliegt Antonio wie jeden Tag in der Bar gegenüber der Questura die Seiten des ›Corriere della Sera‹. Je weiter er Buzzatis Reportage über die Festnahme des Marseille-Clans liest, desto übler wird ihm: »Viele rechtschaffene und wohlmeinende Menschen zeigten sich enttäuscht angesichts der Nachricht, dass die Polizei innerhalb weniger Tage die Täter von der Via Montenapoleone identifiziert und ihre Anführer dingfest gemacht hat. Wäre es
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