Milano Criminale: Roman (German Edition)
Gürtel.
Es ist Ende März, doch die Luft schmeckt nach Herbst, hier stehen sie in kompletter Kampfmontur. Gemeinsam mit ein paar hundert Polizisten, aufgereiht wie Wachhunde, alles rund um den Largo Gemelli, wo die Studenten sich zu einem nicht genehmigten Demonstrationszug versammelt haben.
Die Kette der Ordnungskräfte bebt, wartet nur auf das Signal zum Einschreiten. Helme, Schlagstöcke und brandneue Schutzschilde erinnern an die alten Römer. Das Halali muss von ganz oben geblasen werden, von Antonios neuem Chef, Vizekommissar Gennaro Cimmino, der ebenfalls in ihrem Block steht, wenngleich ein Stück weiter hinten. Ginge es nach dem anführenden Militär, würde er alles seelenruhig abblasen und ins Präsidium zurückkehren: Sollen sich doch die Politiker um die aufgebrachten Studenten kümmern! Er ist ein waschechter Neapolitaner, er füllt seine Uniform fast zu gut aus, sein Gesicht leuchtet immer rot, zurückgegelte schwarze Haare und zwei hervortretende Augen, die an ein Chamäleon erinnern. Und manchmal, wenn er wütend wird, kann er tatsächlich seine Gesichtsfarbe ändern.
Alle warten, die Nerven sind zum Zerreißen gespannt.
Der Student redet weiter. Er schreit in ihre Richtung und macht sich lustig über sie.
»Geht nach Hause, Polizisten, ihr habt nur noch vier Minuten, um zu verschwinden.«
Santi könnte seine Stimme auch ohne Flüstertüte hören: So nah stehen sie beieinander, nur wenige Meter entfernt, und in den Augen des Jungen liest er eine Entschlossenheit, eine unverwüstliche Überzeugung, im Recht zu sein.
»Diesen Scheißidealisten schlag ich die Fresse ein«, kommentiert einer der Männer im Polizeiblock und fährt dabei mit der Hand über den Schlagstock.
»Ce stanno uommene, uommenicchie, uommenone e quaquaraquà« , bemerkt Cimmino, der an Santis Seite auftaucht, »es gibt große Männer, kleine Männer, dicke Männer und Nullen, und der da gehört zu Letzteren.«
»Kennst du ihn?«
Der Neapolitaner sieht ihn überrascht an. Nicht etwa, weil er ihn geduzt hat, das tun sie vom ersten Tag an. Nein, er wundert sich, dass Santi den Typen da vorne nicht kennt.
»Aber guagliò , Jungchen, den kennen doch alle! Das ist dieses Arschloch Giorgio Castelli. Ein Hurensohn, der heute den Idealisten spielt und morgen, wenn alles vorbei ist, schön ins gemachte Nest seiner bürgerlichen Herkunft zurückkehrt. Er ist der Anführer der Proteste und addò vàje truòve guàje , wo er hinkommt, gibt’s Ärger.«
Santi nickt. Er hat von Castelli gehört. Schon an seiner Art, sich zu bewegen, erkennt man den Charismatiker. Groß und schlank, Dreitagebart, brauner Lockenkopf, mit Parka und durchdringender Stimme. Er redet wie ein Anführer, klar, geschliffen, trotz seiner zwanzig Jahre niemals banal. Arztsohn, an Geld mangelt es ihm wahrlich nicht. Das wissen seine Protestgenossen genau, und das wissen auch die Ordnungskräfte, die seine Laufbahn innerhalb der Studentenbewegung – des movimento studentesco oder MS , wie sie in den offiziellen Berichten abgekürzt wird, wie die Zigarettenmarke – hautnah miterlebt haben.
Auch Agente Martinez ist auf ihren Gegner gut vorbereitet. »Ich habe seinen Eintrag in der Kartei gelesen. Die erste Anzeige bekam er vor ein paar Monaten, am 17. November 1967, um genau zu sein, als er zusammen mit anderen die Besetzung seiner Hochschule organisiert hat, der Università Cattolica.«
»Was war da los?«, fragt Santi.
»Alles fing damit an, dass der Verwaltungsrat die Studiengebühren um vierundfünfzig Prozent anhob. Kein Witz! Für viele bedeutete das einen unzumutbaren Aderlass, doch auch jene, die es sich eigentlich leisten konnten, die Privilegierten sozusagen, solidarisierten sich mit ihnen.«
»Unter ihnen unser Mann, vermute ich.«
»Genau. Er und andere hatten die Idee, die Uni zu besetzen. Geschlossen wegen Protests, schrieben sie an die Tür.«
»Jetzt erinnere ich mich wieder. Ein nie dagewesenes und unerhörtes Ding an der Pfaffenhochschule.«
»Eben, sie verwandelten den Vorplatz der Universität in einen Campingplatz. Überall schlugen die Studenten ihr Zelte auf und belagerten die Uni Tag und Nacht.«
»Warum ist er in der Kartei gelandet?«
»Weil er die anderen pausenlos aufgewiegelt hat. Er ist ein Subversiver.«
»Dann hätten sie ihn mal richtig vermöbeln sollen«, mischt sich Cimmino ein.
»Wie endete die Besetzung?«, fragt Santi.
»Tja, die Antwort des Rektors ließ nicht lange auf sich warten: Sie setzten einen Grundsatz
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