Milano Criminale: Roman (German Edition)
über den Augen, dem halb ums Gesicht geschlungenen Schal und dem Mantel bis fast auf die Füße?
Nach einer Minute fließt sein Blut wieder normal, er kann durchatmen, und auch das Gehirn nimmt seine Arbeit wieder auf. Und brütet etwas ganz Großes aus. Er denkt, dass dies der Tag der Rache sein soll für das, was Vandelli ihm damals in der Bar auf der Piazza Tirana angetan hat, als er diese Hure verteidigte, mit der er jetzt liiert ist. Damals hat er klein beigegeben, aber nur äußerlich. Jetzt will er sich rächen. In der Tasche findet er eine Münze. Er lächelt, atmet tief ein und öffnet das Tor. Niemand zu sehen. Er überquert die Straße und quetscht sich in eine öffentliche Telefonzelle, um ein Telefonat zu führen, das sein Todesurteil sein wird.
Agente Martinez kommt gar nicht dazu, sich zu melden; kaum nimmt er den Hörer ab, erklingt eine männliche Stimme, die ihm Folgendes mitteilt: »Wenn ihr Vandelli haben wollt, den Ausbrecher vom Giambellino, findet ihr ihn in der Bar Basso. Ihr erkennt ihn an seinem Wolfspelz.« Und legt auf.
Der Polizeibeamte wählt wie aus einem lange eingeübten Reflex Santis Privatnummer. Der hat zwar dienstfrei heute Nacht, doch das interessiert ihn bestimmt. Und er behält recht.
»Wir sind in zehn Minuten da«, ordnet Antonio an. »Du kommst mit dem Zagato, aber ohne Martinshorn und Blaulicht.«
»Soll ich Piazza Bescheid geben?«
»Nein, ich übernehme die Verantwortung. Und jetzt beeil dich!«
Ein Schießeisen im Nacken zu spüren ist selbst für einen Gangster keine alltägliche Erfahrung. Auch mit drei Falschen intus, die ihm in den Kopf steigen und seine Nerven entspannen, kann Vandelli seinen Schreck nicht verhehlen.
»Du bist festgenommen, Arschloch.«
Die scighera erleichterte den zwei Polizisten ihre Arbeit, gab ihnen genug Zeit, ungesehen alle Vorbereitungen zu treffen. Heimlich haben sie einen Blick in die Bar geworfen und dort gleich ihren Mann erkannt, der mit einem blonden Gift zusammensaß. Mit gezückten Kanonen hineinzurennen wäre kein kluger Schachzug gewesen. Gut möglich, dass Vandelli zurückgeballert hätte. Also musste eine List her. Sie legen sich draußen auf die Lauer, während die Kälte ihnen in die Haut sticht und der Nebel sie bis auf die Knochen durchnässt.
Fast eine Stunde müssen sie sich gedulden, bevor der Verbrecher endlich mit seinem Mädchen herauskommt. Sie lassen ihn vorübergehen, dann tauchen sie hinter ihm auf mit den Kanonen im Anschlag. Santi drückt dem Mann den Lauf der Beretta an den Kopf: Er will keine falsche Bewegung riskieren, und aus dieser Distanz kann er sein Ziel gar nicht verfehlen.
Agente Martinez zielt auf Ninas Rücken. Als das Mädchen sich umdreht und ihn ansieht, gerät der junge Polizist fast in Verlegenheit. Sie ist ein echter Kracher, da könnte man glatt den Kopf verlieren. Doch Santi hat ihn gebührend vorbereitet; er hat ihn gewarnt, dass auch sie bewaffnet sein könnte, so lässt er sie zuerst die Hände heben und legt ihr dann Handschellen an: Sollen sie im Polizeipräsidium entscheiden, ob die Festnahme gerechtfertigt war oder ob man sie laufen lässt.
Auch der Bandit hat sich nun umgedreht und sieht Antonio mit höhnischer Miene an.
»Dieses Mal hast du Glück gehabt, Bulle, aber unser Weg ist noch lange nicht zu Ende.«
»Deiner führt jetzt erst mal ins Beccaria«, gibt Santi zurück und schiebt ihn ins Auto. »Und dort bleibst du eine Weile.«
Während der Zagato den Nebel in Richtung Questura durchpflügt, erklingt aus dem Autoradio Caterina Casellis Stimme mit dem Lied Insieme a te non ci sto più , und Nina kommen fast die Tränen.
Barrikaden
1
»Ihr Bullen habt jetzt genau fünf Minuten, um zu verduften«, schreit der Student in das Megaphon.
Seit vier Tagen ist es Frühling, doch von Blumen und blauem Himmel keine Spur. Dafür Rauchbomben, Molotowcocktails, brennende Mülltonnen, das ja. Viel zu viele.
Agente Martinez dreht sich automatisch zu Santi um.
»Der ist ja völlig übergeschnappt«, sagt er.
Antonio verzieht keine Miene. Starr blickt er auf die Menschenmenge, die wie ein einziger Leib vor ihnen hin und her wabert. Vandellis Festnahme hat nichts an Piazzas Haltung geändert: Er will ihn nicht mehr sehen.
»Und deinen Speichellecker kannst du gleich mitnehmen: Ihr seid eh solche Kletten, euch sollte man nicht auseinanderreißen!«, waren die letzten Worte des Commissario. Daher befindet sich nun auch Martinez an vorderster Front, den Schlagstock am
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