Milano Criminale: Roman (German Edition)
Volonté in der Rolle des Verbrechers Pietro Cavalieri.
Der Bulle lässt sich keine Einstellung des Films entgehen. Erneut sieht er die grünen Polizeiwagen über den Viale Pisa rasen, erneut hört er den Lärm der Schüsse.
Der Film lebt von dem Schauspieltalent Gian Maria Volontés, der seinen ureigenen Turiner Dialekt wieder ausgräbt: Sein Gangster ist arrogant und überheblich, intelligent und gebildet, dass es den Bullen schaudert. Er ist das perfekte Abbild seines Feindes. So betrachtet fast ein Held, wenngleich ein negativer.
Ein Schmerz durchbohrt seine Schulter, als Volonté-Cavalieri auf ein Polizeiauto schießt und dabei den Fahrer verletzt …
Doch als er die Szene sieht, wo Regisseur Lizzani für eine rekonstruierte Pressekonferenz in der Questura die echten Chronisten der Geschichte ins Bild rückt, muss er unwillkürlich lächeln. Als Basiles abgezehrtes Gesicht über die Leinwand flimmert, scheint er ihm direkt in die Augen zu schauen. In diesem Moment löst sich etwas in ihm, und die angestaute Spannung kann abfließen.
»Und, wie hat es dir gefallen?«, fragt Carla im Hinausgehen. »Du guckst ja …«
Antonio deutet ein Lächeln an. Er macht den Mund auf, bekommt aber keinen Ton heraus.
Seine Frau versteht ihn trotzdem. Sie hat gelernt, seine Reaktionen zu interpretieren. Oft sagt ein Schweigen mehr als tausend Worte.
6
Die scighera , der berühmte mailändische Nebel, der sich wie ein nasses Tuch über die Stadt legt, ist so dicht, dass man nicht einmal bis zur anderen Straßenseite sehen kann. Der weiße Mercedes biegt aus dem Viale Abruzzi in die Straße ein und hält genau vor dem Lokal.
Auf der Fahrerseite steigt Nina aus. Sie trägt einen schwindelerregend kurzen Minirock, Lederstiefel, Rollkragenpulli, Handschuhe und einen weißen Pelz.
Dann entsteigt Vandelli dem Wagen und stellt sich sofort vor die Schaufensterscheibe, um seine neuste Errungenschaft zu bewundern: Der Wolfspelz steht ihm hervorragend. Ein Mann, der gerade das Nachbarhaus betritt, fein herausgeputzt mit Schal, Wollmütze und Paletot, starrt ihn an, als sähe er ein Gespenst.
»Was gibt’s da zu glotzen?«, blafft ihn Vandelli an. Der andere zuckt zusammen und verschwindet im Hauseingang.
»Der glotzt so, weil du wie ein Zuhälter aussiehst«, lacht Nina, als sie sich bei ihm unterhakt.
Er setzt seine Sonnenbrille auf und zündet sich eine Zigarette an.
»Und du wie vom Straßenstrich, damit du’s weißt. Was machen wir hier überhaupt?«
»Ich hab in der ›Epoca‹ gelesen, dass das die beste Cocktailbar Mailands ist und alle vornehmen Leute herkommen.«
»Ich mag vornehme Leute nicht. Und was ist das überhaupt für ein Scheißname, Bar Basso?«
Sie reagiert nicht.
»Hast du jemals einen Falschen getrunken?«
»Ich hab ja schon einigen Mist gemacht, aber nicht beim Trinken.«
»Dann wird es Zeit, damit anzufangen.«
Die Bar ist gut gefüllt, und der Verbrecher muss zugeben, dass sie nicht so schlimm ist wie befürchtet. Ein langer Bartresen mit endlosen Flaschenreihen, große Spiegel an den Wänden, steife Kellner, Männer und Frauen mit Klasse, gedämpftes Gelächter.
»Hier sieht’s aus wie in einem Pariser Bistro«, stellt Nina fest und zieht Vandelli zu einem der wenigen freien Tische. Im Hintergrund singt Mina leise È l’uomo per me .
»Oder nein«, verbessert sie sich beim Hinsetzen, »es sieht aus wie das Café eines großen Hotels von Cortina. Den Laden hier hat gerade ein Venezianer übernommen, der in Harry’s Bar in Venedig gearbeitet hat, weißt du, wo auch Hemingway immer hinging?«
Vandelli nickt gelangweilt. Solcherlei Geschwätz interessiert ihn nicht die Bohne.
»Und was trinkt man hier?«, fragt er.
»Einen falschen Negroni, hab ich doch gesagt!«
»Und was ist so Besonderes an dem?«
»Probier ihn und gib Ruhe. Er heißt falsch, weil sie anstelle des Gins Sekt verwenden.«
Prestinés Herz rast, und er hat zittrige Beine. Halt suchend lehnt er sich an das eisige Holz des Haustors. Es ging alles so schnell, gerade wollte er mit der Arbeit beginnen – mit seiner richtigen Arbeit, der er auch seinen Spitznamen ›der Bäcker‹ verdankt –, dort in der Via Plinio. Als er den Schlüssel ins Schloss steckte, um zur Backstube im Hof zu gelangen, steht plötzlich dieser Mann vor ihm. Und er bekam es mit der Angst. Er ist sich ganz sicher, dass er es ist, ohne jeden Zweifel, und er ist sich auch sicher, dass Vandelli ihn nicht erkannt hat: wie auch, mit der Mütze tief
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