Milano Criminale: Roman (German Edition)
gegenübersitzt. Als Antwort fragt der Häftling, ob er rauchen dürfe. Nach einem resignierten Nicken beschränkt sich der Mann dann darauf, Notizen zu machen. Die Unterredung dauert nicht lange; als Roberto mit seiner üblichen Litanei anfängt, verliert er die Geduld und schickt ihn weg.
»Dottore, darf ich Ihnen noch eine Frage stellen? Wer zum Teufel war denn nun dieser Beccaria, nach dem diese Bruchbude benannt ist?«
Nach dieser Begegnung will der Psychologe ihn nicht mehr sehen.
»Auf den Jungen muss keine Zeit verwendet werden«, schreibt er in die Akte, »da er auf Hilfsangebote nicht anspricht.«
Die Dynamik in der Jugendstrafanstalt ist nach wie vor dieselbe. Junge Männer mit undurchdringlichem Blick, die sich für erwachsen halten und es vielleicht angesichts dessen, was sie getan haben, über Nacht auch geworden sind. Sie schlendern in Gruppen umher und fühlen sich allen überlegen. Ein Allmachtswahn treibt die Gangs im Beccaria an, wo kleine Anführer beweisen müssen, die Stärksten zu sein. Ein Großteil von ihnen stammt aus den verrufenen Vierteln Mailands: Quarto Oggiaro, Giambellino, Corvetto, Comasina, Baggio, Gratosoglio und so weiter, sie alle sind in diesen Mauern in stolzer Zahl vertreten.
Man braucht ihnen nur ins Gesicht zu sehen, um einen Teil ihrer persönlichen Geschichte zu erahnen, die sie mit sich herumtragen: Narben, erloschene Blicke, abgerissene Kleider. Von den Schielaugen Tizianos aus Baggio, der nie bei einem Augenarzt war, zum eingedrückten Schädel Domenicos aus Corvetto, der mit acht Jahren aus dem vierten Stock gefallen ist und weder lesen noch schreiben kann, bis hin zu der Narbe, die Nardinos rechte Wange spaltet, Nardino, geboren und aufgewachsen in Gratosoglio.
Vandelli wird von seinen Leuten vom Giambellino respektvoll aufgenommen, die erst vor kurzem Pinto verloren haben. Sein Ruf eilt ihm voraus, innerhalb und außerhalb der Besserungsanstalt.
Außer um Sex drehen sich die Gedanken im Bau nur um eins: ausbrechen, weg hier. Vor allem die Neuankömmlinge denken ständig daran. Nicht so Vandelli, nicht mehr. Die Zeiten sind vorbei. Viele beginnen zu glauben, er sei ein Schwächling geworden. Bis ihn eines Tages einer der Seinen, Gennarino, der Sohn des Friseurs mit einem Geschäft auf dem Largo Brasilia, genau das fragt. Einfach so, rundheraus. Sicherheitshalber hat er Tinelli bei sich, der nicht gerade eine Leuchte ist, aber ein perfekter Leibwächter. Die Macht der Überzahl.
»Nichts weniger als das«, erwidert Roberto, »ich habe nicht aufgegeben, ich will nur sauber hier rauskommen.«
Der andere schaut ihn an, als habe er sie nicht mehr alle, Tinelli feixt. Vandelli lässt sie. Nicht aus Angst, sondern aus guten Gründen. Gennarino hat nicht alle Tassen im Schrank: Er sitzt, weil er mit einem Komplizen einen Altersgenossen zusammengeschlagen, vergewaltigt und schließlich – er hielt ihn für tot – bei lebendigem Leib begraben hat. Man weiß nie, wie einer reagiert, der nichts zu verlieren hat.
»Es bringt nichts auszubrechen und die komplette Madama auf den Fersen zu haben, wenn man eh nur ein paar Monate runterschrubben muss«, erklärt er geduldig. »Das habe ich am eigenen Leib erfahren: Das ist es nicht wert. Besser seine Zeit in aller Ruhe absitzen, und wenn du rauskommst, bist du sauber. Kein Bulle kann ständig an dir rumnerven, verstehst du? Ans Ausbrechen denkt man, wenn man so viele Jahre aufgebrummt bekommen hat wie du. Klar, dann findet man keine Ruhe und denkt jeden Moment an Flucht.«
Jetzt entblößt der Junge seine kariösen Zähne. Vandelli hat ihm gesagt, was er hören wollte. Mit der Andeutung eines Abschiedsgrußes trollt er sich. Tinelli folgt ihm mit gesenktem Kopf, ohne die Bohne von dem Gespräch verstanden zu haben.
Der Bandit vom Giambellino streckt sich auf der Liege aus und zündet sich eine Zigarette an. Er wird die kommenden Wochen darauf verwenden, seine nächsten Coups zu planen. An Reue denkt er nicht im Traum.
In diesen einsamen Momenten – die selten genug sind, um ehrlich zu sein, denn der Knast ist ein kollektiver Ort, laut und ohne Rückzugsmöglichkeit – nagt eine innere Wut an ihm.
Trotz seines selbstsicheren Auftretens während des Hofgangs und vor den anderen lässt ihm eins keine Ruhe: dass er wieder einmal gefasst wurde. Sie haben ihn geschnappt, als wäre er ein hirntoter Anfänger, zudem noch angeschickert und in Zuhälterklamotten.
›Ich bin einfach noch zu unerfahren‹, versucht er sich
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