Milano Criminale: Roman (German Edition)
in den Statuten – den berühmt-berüchtigten Artikel 47 – um, der es zuließ, Studenten der Uni zu verweisen, wenn ihr Benehmen ›mit dem Geist der Universität unvereinbar‹ ist. Hundertfünfzig Studenten wurden vorübergehend ausgeschlossen und einige ihrer Führer exmatrikuliert, darunter unser Castelli.«
»Und was tut er dann hier?«
»Seitdem ist er an der Staatlichen Universität eingeschrieben. Und hat sich zum Anführer der Bewegung aufgeschwungen.«
Niemand sagt etwas.
Die Studentenbewegung, überlegt Santi. Wie oft haben er und Carla darüber diskutiert? Sie stets solidarisch mit den Demonstranten, die das Recht auf ihrer Seite haben, wie sie findet. Er hin und her gerissen, besorgt angesichts der schlimmen Wendung, die die Dinge nehmen. In Rom zum Beispiel haben seine Kollegen neulich ernsthafte Schwierigkeiten bekommen. Ein paar Wochen zuvor war es an der Architektur-Fakultät der Sapienza-Uni in Valle Giulia zu schweren Ausschreitungen zwischen Polizei und Studenten gekommen: Diese versuchten, den Fachbereich zurückzuerobern, in dem sich die Polizei niedergelassen hatte, nachdem sie ihn von einer studentischen Besetzung geräumt hatte. Tagesbilanz: hundertfünfzig Verletzte auf Polizeiseite und rund fünfzig bei den Demonstranten, vier Festnahmen, zweihundert Anzeigen. Antonio verzieht den Mund; die Stimmung ist aufgeheizt, und was er vor sich sieht, verheißt nichts Gutes.
»Chistu figghio ’e ndrocchia è uno che piace a ’e femmene!«
Cimminos Kommentar reißt Santi aus seinen Gedanken, und er kann mitansehen, dass dieser ›Hurensohn‹, wie der Neapolitaner sich ausdrückt, wirklich ein Frauenliebling ist. Zwei Studentinnen nähern sich dem jungen Mann mit Megaphon. Sie sind hübsch und flirten mit ihrem Anführer, ungeachtet der Polizeiphalanx, die sie mit Blicken verschlingt.
Castelli winkt ironisch zu den ›Sklaven der Macht‹ hinüber. Die Cattolica liegt für ihn so weit zurück! Da mussten die Mädchen schwarze Schürzen tragen und durften nicht in Hosen herumlaufen; die Männer wiederum durften im Sommer keinen Bauch zeigen, und egal ob Hemd oder T-Shirt, alles musste immer in die Hose gesteckt werden. Jetzt war das anders.
Es kommt ihm vor, als seien Lichtjahre vergangen, seit er damals, noch auf der Cattolica, ein siebzigseitiges Traktat verfasst hatte, um seine damalige Freundin davon zu überzeugen, dass vorehelicher Geschlechtsverkehr mit den Lehren des Thomas von Aquin und des Augustinus vereinbar sei. Zum Totlachen! Das Unglaublichste daran war, dass es funktioniert hat. So gut, dass sie sich schließlich trennten: Der Blickwinkel des Mädchens hatte sich weiter geöffnet als gewünscht. Doch er hatte nicht viel Zeit verloren, seine Wunden zu lecken. Er mochte die Frauen, und sie mochten ihn, sogar sehr. Während er darüber nachdenkt, drückt er eines der Mädchen an sich. Dann küsst er sie beide auf den Mund.
Der Militär neben Santi stößt einen Pfiff aus.
»Es heißt, er bumst auch reifere Damen«, mischt sich Martinez ein. »Tagsüber demonstriert er auf der Straße gegen das Kapital, und abends, wenn man den Quellen glauben will, schlüpft er unter die Decke von einer, die eigentlich seine Feindin sein müsste, die Eigentümerin einer wichtigen Tageszeitung …«
»Kein Wunder, dass die Presse gut über die Studenten und schlecht über uns Bullen schreibt!«
»’A capa ’e sotta fa perdere ’a capa ’e còppa« , kommentiert Cimmino. Er blickt sich um und übersetzt dann für seine Kollegen aus Restitalien: »Sex macht dumm.«
Alle brechen in Gelächter aus, und im Funkgerät des Vizekommissars krächzt es. Er entfernt sich ein paar Schritte. Seine Miene verdüstert sich.
Castelli betrachtet die Polizeikette und schreit weiter gegen sie an. Er provoziert, lacht sie aus, bis das Lächeln auf seinem Gesicht erstirbt, als er sieht, wie sie unter mittelalterlichem Eroberungsgebrüll losstürmen und ihre Schlagstöcke durch die Luft wirbeln lassen.
2
Das Leben im Beccaria zieht sich träge dahin. Wie unter Glas, erstarrt und genau so, wie Vandelli es vor vielen Monaten zurückgelassen hatte – ohne jedes Bedauern. Die Gesichter sind andere, nicht aber die Substanz. Auch der Seelenklempner wirkt nicht besonders verändert. Die glänzende Platte und die spärlichen, ergrauenden Haare. Wer jeden Tag mit Kanaillen zu tun hat, altert allem Anschein nach vor seiner Zeit.
»Freizeitaktivitäten kannst du dieses Mal vergessen«, mahnt er, als er ihm
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