Milano Criminale: Roman (German Edition)
Wartenden vor der Tür mehr hineinkam.
Hendrix eröffnete das Konzert nach zehn Uhr mit I Don’t Live Today . Der Sound war grauenhaft, man hörte kaum die Stimme des Sängers. Mitten im Konzert warf er seine Gitarre hoch in die Luft, fing sie wieder auf und spielte weiter, als sei nichts gewesen, unter dem Gejohle der Zuschauer.
Das Ganze dauerte kaum eine Stunde. Jimi spielte viele Stücke aus seinem Repertoire wie Fire, Foxy Lady, Red House und das ganz bekannte Hey Joe .
Als sie hinausgingen, sprühte Carla förmlich vor Glück. Sie hing an Antonios Arm und erging sich in lästerlichen Witzen: »Irgendwie könnte man sagen, dass ich jetzt die Heilige Dreifaltigkeit gesehen habe, oder? 1965 die Beatles im Vigorelli, 1967 die Stones im Palalido und jetzt Jimi Hendrix im Piper. Das reicht mir.«
Gerade als er ihr antworten wollte, standen plötzlich eine kurvenreiche Blondine und eine dürre Frau mit ausdruckslosem Gesicht vor ihnen. Anstatt eines Grußes hoben sie vielsagend den Mittelfinger. Gewürzt mit einem vernichtenden Blick. Dann entfernten sich Nina und Angie, ohne etwas hinzuzufügen.
»Wer war die Blonde da?«, hatte Carla ihn gefragt.
»Ach nichts, nur eine, mit der ich mal eine Meinungsverschiedenheit hatte.«
Das Cabriolet brummt über die kurvigen Straßen am Comer See. Die warme Luft streicht durch Carlas hochtoupierte Haare, die frisch vom Friseur kommt. Sie ist glücklich, und nicht nur wegen des neuen Autos: Gerade heute Nachmittag hat sie erfahren, dass sie ab September arbeiten wird. Als Lehrerin für Italienisch und Philosophie an einem Gymnasium. Zwar anfangs nur als Vertretungskraft, aber sie freut sich trotzdem. Und erwartet von ihrem Mann, es ihr gleichzutun.
»Los, jetzt lächele doch auch mal, du Griesgram. Wir haben doch alles, was man sich nur wünschen kann. Du musst nicht traurig sein!«
»Alles, sagst du?«
»Alles, Antonio.«
»Wie deine Studentenfreunde?«
»Noch mehr. Wir lieben uns nämlich.«
Mit diesen Worten beugt sie sich zu ihm und küsst ihn, und Santi muss sich eingestehen: Er fühlt sich gut. Als hätte er wirklich alles.
6
»Wenn wir die Dinge ändern wollen, müssen wir das System ins Herz treffen!«
Tosender Applaus brandet durch das wahnwitzig überfüllte Auditorium maximum der Università Statale. Die Generalstäbe der Bewegung haben sich versammelt, und Castelli steht mit dem Megaphon in der Hand vorne und schwört sie wie üblich ein.
In jeder Redepause gehen die Hände in die Luft, und während er spricht, herrscht andächtige Stille. Er erläutert die nächsten Schritte, die Strategie nach dem Vorbild ihrer Genossen jenseits der Alpen. Zumindest teilweise. Die Lektion aus Paris lautet, nicht alle müssen die globale Dimension des Projektes erkennen. Die Strategie wird in groben Zügen erläutert, die Basisinformationen verbreitet, doch nur ganz wenige, vier oder fünf von ihnen, sind in das eingeweiht, was wirklich passieren wird. Sie müssen lernen, wie eine Armee zu handeln: Wer das Heer anführt, muss den Plan klar vor Augen haben, während der Fußsoldat nur gehorcht und kämpft. Er muss weder diskutieren noch die Entscheidungen gutheißen. Die direkte Demokratie war der Ruin des Pariser Mais, davon ist er mittlerweile überzeugt. Sie würden nicht in dieselbe Falle tappen.
»Morgen ziehen wir in einem großen Demonstrationszug durch die Stadt bis zur Piazza del Duomo!«
Als er das verkündet, scheinen die Wände des Audimax vor Getöse zu bersten. Alle stehen hinter ihm.
Die Versammlung löst sich auf, und die Studenten ziehen langsam ab. Nur Castelli, Landi, Santoni und ein paar andere bleiben zurück; sie müssen noch besprechen, woher sie das für die Operation benötigte Material bekommen. Sie denken und reden schon wie Soldaten. Sie sind die Einzigen, die wissen, was morgen tatsächlich geschehen wird. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, um ihren Vorteil gegenüber der Bullerei nicht zu verspielen: Sie sind sich mittlerweile sicher, dass es reichlich Spitzel in den Reihen der Bewegung gibt. Studenten, die in Wirklichkeit Bullen sind oder zumindest Informanten der Polizei und ihre Pläne im Polizeipräsidium verpfeifen. Denn sie planen keineswegs, bis zur Piazza del Duomo zu gehen, das ist nur ein Köder. Das wahre Ziel liegt woanders.
Sie brauchen drei Fahrten mit dem R4, um alles herbeizuschaffen, was sie vor der Demonstration an die Genossen verteilen müssen. Außer dem üblichen Benzin für die Molotowcocktails und den Stahlkugeln
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