Milano Criminale: Roman (German Edition)
Largo Treves auf und explodiert im Himmel: das Signal.
Mittlerweile sind die Demonstranten durch den Aufruhr der letzten Minuten darüber informiert, was vor sich geht. Manch einer ist nicht einverstanden, doch ihm bleibt nichts anderes übrig, als mitzutanzen. Andere blicken nicht so genau durch, machen aber mit. Die Mehrheit ist jedoch wie vorhergesehen begeistert über diesen Angriff auf die ›Propagandamaschine des Regimes‹.
Aus Castellis Gruppe lösen sich ein Dutzend Studenten und schieben Autos auf die Straße. Andere springen ihnen bei, während das zwanzig Meter entfernt postierte Polizeiheer verdattert zuschaut. Ein höherer Beamter in Zivil spricht ins Funkgerät, wahrscheinlich bittet er um Anweisungen.
Eins hat Castelli auf den Barrikaden der Pariser Boulevards gelernt, der Überraschungseffekt ist das A und O in solchen Fällen. In wenigen Minuten ist die Straße abgeriegelt: fünf Autos, Stoßstange an Stoßstange als Bollwerk, dahinter Demonstranten, die die Brandsätze vorbereiten. Die Ansage lautet, sie nicht auf Polizisten zu werfen.
»Mit den Mollis sollen die Barrikaden angezündet werden, um den Vormarsch der Bullen aufzuhalten, verstanden?«, schreit Castelli aus voller Kehle. »Sie sind unsere Deckung beim Rückzug. Nicht werfen!«
Landi und Santoni haben mit ihren Gruppen das Gleiche getan. Der ›Corriere della Sera‹ ist komplett umstellt.
»E mo so’ cazzi!« , murmelt Cimmino. »Schöne Scheiße, jetzt müssen wir ihr Spiel mitspielen.«
Castelli lauscht über Polizeifunk seinen Anweisungen. Die Bullen greifen an. Wie erwartet.
»Alles bereithalten!«, schreit er.
Zuerst hatten sie überlegt, den Sitz der Zeitung zu stürmen, in die Redaktion hineinzugehen und die Zeitung zu übernehmen, doch das hätte zu einem Blutbad geführt, also hatten sie beschlossen, nur die Ausgänge dichtzumachen. Ein realistisches Ziel – wenn sie die Stellung hielten –, das aber trotzdem im ganzen Land enormen Widerhall finden würde.
Sobald die Bullen vorangehen, setzen die Studenten die erste Barrikade in Flammen und weichen zehn Meter zurück, um dort in Ruhe die nächste zu errichten. Auf der Straße verteilen sie die Stahlkugeln: Sie und die Flammen haben die Aufgabe, den Vormarsch der Bullen zu verlangsamen.
»Weiter!«, schreit Castelli. »Von der Via Solferino ins Zentrum, alles muss zerstört werden mit Feuer und Schwert! Der ›Corriere‹ darf nicht erscheinen!«
Kurz darauf kommen die Löschfahrzeuge der Feuerwehr, um die Brände zu bekämpfen. Die Stadt steht in Flammen. Rotes Feuer und schwarzer Rauch steigen bis in die frühen Morgenstunden in den Himmel auf.
Als endlich alles zu Ende ist, präsentiert sich den entsetzten Mailändern der Anblick einer Stadt, die zwischen die Fronten geraten ist. Ausgebrannte Autos, verkohlte Häuserwände, zersplittertes Glas. Eine Katastrophe.
Doch nach stundenlangen Gefechten ist der Sieg der Studenten lediglich ein moralischer. Die Zeitungen werden um fünf Uhr morgens ausgeliefert – wenngleich in Lieferwagen, deren Aufschrift Corriere della Sera eilig mit Farbe überpinselt wurde, um sie unkenntlich zu machen.
»Immerhin vier Stunden Verspätung haben wir ihnen beschert«, verkündet Castelli seinen Leuten stolz. »Ein großer Erfolg, ein wichtiges Signal! Nächstes Mal sind wir noch besser.«
Und an diesem Punkt begeht der Anführer der Bewegung eine Leichtsinnigkeit. Eine dumme Unachtsamkeit, nachdem alles vorbei ist, als der Sieg zumindest teilweise der seine ist. Ein perfekter Plan, arglos zunichtegemacht durch das Versäumnis, seine Leute nach Hause zu schicken. Sofort.
Die Polizei wurde anfangs kalt erwischt, doch sie hatte genug Zeit, sich zu organisieren. Und vor allem, den Gegenzug vorzubereiten.
Antonio hatte die Idee gehabt.
»Jetzt können sie ja alles tun, was sie wollen, aber früher oder später müssen sie sich auflösen, oder?«
Cimmino hatte genickt.
»Exakt, guagliò . Und dann erwarten wir sie.«
Die Taktik geht auf. Castelli und die anderen Anführer der Proteste angeln sie sich in deren Wohnungen, was zu erwarten gewesen war. Allerdings hatte niemand damit gerechnet, dass sie auch beinah alle anderen fassen würden. Nach dem Ende der Kämpfe machen die Genossen den Fehler, noch durch die Stadt zu streifen, anstatt sich zu Hause schlafen zu legen. Und so kommt es zwischen sechs und sieben Uhr morgens zu über dreihundertfünfzig Festnahmen: von der Straße aufgegriffen, bei Straßensperren eingekreist,
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