Milano Criminale: Roman (German Edition)
total euphorisierte Studenten im Rektorat der Statale.
» Bello juoco dura poco , auch das schönste Spiel geht mal zu Ende«, kommentiert Cimmino zufrieden, als die Zellentür hinter dem letzten Demonstranten ins Schloss fällt.
Feldobservierung
1
Der August hinter den Mauern des Becca ist die reinste Hölle. Schlimmer noch als der Rest des Jahres.
Außerdem gibt es zwei besonders harte Tage für die Häftlinge im Bau: Ferragosto und Weihnachten. An diesen Feiertagen wiegt die Einsamkeit schwer wie ein Mühlrad, die Menschen draußen fehlen, die Freiheit fehlt, alles wird noch unerträglicher.
Vandelli beißt die Zähne zusammen. Er war gewarnt, dass der Sommer in der Jugendstrafanstalt kein Zuckerschlecken ist, und von Tag zu Tag spürt er das deutlicher. Unter diesen Umständen schwächeln im Übrigen selbst die schwersten Jungs, das merkt man, wenn die Hitze über allem brütet und jeder so tut, als wären die Tränen auf dem Gesicht des anderen Schweißtropfen. Eine Ausrede, die im Winter wiederum nicht zieht, wenn man am letzten Tag des Jahres in klirrender Kälte beim Hofgang herumsteht. An Weihnachten droht einen die Traurigkeit zu ersticken, zumindest wenn man draußen Familie hat, mit der man normalerweise feiert. Vandelli nicht, der hat den 25. Dezember des Vorjahres damit zugebracht, die geräumige Villa eines Bauscia zu plündern, der mit der ganzen Familie in Cortina im Urlaub weilte.
Vergangenes Jahr an Ferragosto, dem Höhepunkt des Sommers Mitte August, war er hingegen mit den Jungs vom Giambellino am Wasserflughafen baden gegangen, später waren sie nach Ticinese zurückgekehrt und hatten von einer Brücke aus Kopfsprünge in den Naviglio gemacht. Im kalten Wasser baden, schwimmen, tauchen.
Erinnerungen lenken ab.
Zwei Stunden zuvor hat sich ein Junge mit einem Bettlaken auf dem Klo erhängt. Einer dieser weichen Typen, um die sich hier drin alle reißen. Den hier hatten sie fertiggemacht, physisch, vor allem aber mental. Vernichtet.
Von der ersten Nacht an hatten sie ihn gequält. Die übliche Prozedur für jene, die unterlegen sind und es hier drinnen meist auch bleiben. Vergewaltigt, schikaniert, gedemütigt, von drei Häftlingen. Ein vierter stand Schmiere, sollte der Wärter kommen. Sie zwangen ihn, nackt vor ihnen zu tanzen, steckten seinen Kopf in die Kloschüssel und zogen die Spülung; verlangten von ihm Sex-Dienste aller Art.
Am Ende konnte er nicht mehr und schlang sich das Laken um den Hals. Brachte sich um, inmitten der allgemeinen Gleichgültigkeit der langen und leeren Flure, wo jeder Schritt ewig widerhallt und die Schatten der Gitterstäbe auf dem Boden dich stets daran erinnern, dass du nicht rauskannst.
Vandelli erfährt die Neuigkeit in der Kantine beim Essen. Eine graue, geschmacklose Pampe. Scheinbar unbeteiligt kaut er weiter. Es gibt ohnehin nichts, was er tun könnte. Denn das hat auch er mittlerweile begriffen: Der Knast verändert selbst die zähesten Charaktere. Seine Impulsivität von einst ist nur noch ferne Erinnerung. An ihrer Stelle steht nun die Überzeugung, dass die Schwachen an einem solchen Ort sowieso unterliegen müssen, egal was man tut. Entweder schaffen sie es alleine, sich zu wehren und wieder in die Spur zu kommen, oder sie geben zu Recht auf. Natürliche Auslese. Zynisch, aber auch eine Art notwendige Selbstverteidigung. Um nicht verrückt zu werden, denn Fälle von Selbstmord, Selbstverletzung, Gewalt und sexuellem Missbrauch sind im Bau an der Tagesordnung. Sachen, die ihn nicht mehr tangieren dürfen, so sein fester Vorsatz. Ihm selbst macht niemand Ärger: Das, was er draußen angestellt hat – und bei seinem letzten Besuch drinnen –, macht in den dunklen und feuchten Räumen des Becca die Runde. Keiner, der noch recht bei Trost ist, würde sich mit Vandelli anlegen.
Diesen Schutzpanzer pflegt der Gangster vom Giambellino und sitzt jeden einzelnen der immer härter werdenden Tage seiner Strafe ab, bis er Mitte September, ein paar Monate vor seinem achtzehnten Geburtstag, aus dem Gefängnis entlassen wird. Er hat die Rechnung mit der Justiz beglichen. Er ist frei. Sauber.
Draußen warten zwei Autos auf ihn. Eine Ente mit Pinto und Esposito drinnen und der weiße Mercedes mit Nina hinter dem Steuer.
Vandelli trägt den Wolfspelz zusammengelegt über dem Arm. Er wirft ihn in einen Mülleimer, dann tritt er zu seinen beiden Kumpels, sie umarmen sich und wechseln ein paar Worte. Er lässt sich ein Päckchen Zigaretten geben und entfernt
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