Milano Criminale: Roman (German Edition)
wohnen, abends von einer lächelnden Ehefrau empfangen werden, mit wohlerzogenen und intelligenten Kindern, mit dem blitzblanken Fiat 1100 in der Garage, einem Haus an der Riviera, dem laufenden Fernseher im Wohnzimmer, während arme Schlucker sich noch in den Bars um die Geräte drängeln müssen.
»Es sind genau diese privilegierten Schichten, die du verteidigst!«, wirft seine Frau ihm vor, wenn er sich ihr anvertraut.
»Ich verteidige dich«, würde er ihr am liebsten erwidern, lässt es aber bleiben, weil er letztlich genauso ist. Er möchte dieselben Privilegien haben, dieselbe Sorglosigkeit, doch er hat nicht den Mut, es sich einzugestehen. Wenngleich er und Carla – ohne dass sie es zugeben würden – sich diese Privilegien nur unter Opfern verdienen.
Vor zehn Tagen etwa sind sie aus dem Urlaub zurückgekommen: Sie waren in der Romagna, in Rimini. Der erste Urlaub, seit sie sich kennen, abgesehen von der Hochzeitsreise. Außerdem haben sie sich nach dem Auto auch noch einen Fernseher gekauft, ebenfalls auf Raten. Eigentlich hätte es umgekehrt sein sollen, doch Carla hatte immer gemeint, das Auto sei dringender als der Fernseher, der ohnehin nichts anderes sei als ein Transportmittel für die Polit-Propaganda der regierenden Democrazia Cristiana. In der Pension am Meer jedoch lief im Speisesaal pausenlos der Fernseher, und je öfter sie Mike Bongiorno mit seiner Quizshow Lascia o raddoppia gesehen hatte, umso mehr hatte sie sich in ihn verliebt.
»Wir müssen schließlich auf dem Laufenden bleiben«, hatte sie dann beteuert, als sie nach dem Urlaub ein Gerät anschafften. »Außerdem dient das Fernsehen dem Langzeitprojekt, die Italiener mittels einer einheitlichen Standardsprache miteinander zu vereinen.«
»Ja, mit der Sprache Roms und Mailands.«
So waren sie schließlich zu einem Fernseher gekommen.
›Letztlich‹, denkt Antonio, ›haben wir längst alles, was wir brauchen. Bis auf das einfache Leben.‹
Santis größter Trost war es, dass während er es sich am Meer gut ergehen ließ, Vandelli und Castelli im Knast saßen. In ihren Zellen. Auch der Anführer der Studentenproteste war kurz nach der gelungenen Umzingelung des ›Corriere‹ im Bau gelandet, doch es gelang ihm trotz allem, von sich reden zu machen, indem er im Gefängnis eine Prüfung nach der anderen ablegte. Der Polizist war überzeugt davon, ihm schon bald wiederzubegegnen, an der Spitze des einen oder anderen Protestes.
In der Zwischenzeit machten er und Martinez keineswegs nur Fotos, sondern besuchten auch die Versammlungen. Ohne Fotoapparat, versteht sich. Wie normale Studenten. Sie notierten sich nur die Namen derjenigen, die sprachen, um sie während der Demonstrationen abzulichten.
»Ihr legt eine richtiggehende Verbrecherkartei an! Das ist eine echte Sauerei!«, raunzte Carla.
»Wir haben Krieg. Und wir treffen nur unsere Vorkehrungen.«
Der Feind musste ausgekundschaftet werden, wollte man ihn besiegen. Das ging so weit, dass Antonio sich am Ende vor lauter Nähe mit den Studenten zu identifizieren begann, mit ihren Überzeugungen, mit ihrer Welt, sich immer mehr für ihre Ideale interessierte, sich ihr Wissen, ihre Parolen und schließlich sogar ihre Lieder aneignete.
Wenn die Gitarren ausgepackt wurden, wusste er schon, welche Lieder sie anstimmen würden. Das Repertoire, auch dies muss gesagt sein, war ziemlich beschränkt, so beschränkt, dass nach dem x-ten Mal selbst er und Martinez den Text von Contessa auswendig konnten, die eigentliche Hymne der Protestwelle. Manchmal ertappte er sich sogar dabei, wie er die Melodie auf dem Polizeipräsidium vor sich hin pfiff, bis ihn der erboste Blick irgendeines Kollegen verstummen ließ.
Was ist passiert, Frau Gräfin, in Aldos Industrie,
ein paar Dummköpfe haben gestreikt,
sie stritten für höhere Löhne,
sie schrien gar, sie würden ausgenutzt.
Und als die Polizei dann kam,
haben die Verrückten noch lauter geschrien,
haben die Höfe und die Tore mit Blut beschmiert,
bis das alles wieder weggeputzt ist, kann dauern.
Das Lied hatte durchaus seine Daseinsberechtigung. Komponiert hatte es Paolo Pietrangeli, ein linker Student zur Zeit der Universitätsbesetzung in Rom im Mai 1966. Er war mit seinen Genossen dort, um gegen den Mord durch Faschisten an einem der ihren, Paolo Rossi, zu protestieren, zu dem es einige Tage vorher gekommen war. Pietrangeli schrieb den Text innerhalb einer Nacht, inspiriert von dem Gerede im römischen Bürgertum, das von
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