Milano Criminale: Roman (German Edition)
angeblichen Sexorgien während der ›kommunistischen‹ Besetzungen handelte, und von dem Bericht über einen Fabrikstreik in der Hauptstadt, bei dem der Chef, ein gewisser Aldo, ohne zu zögern die Polizei gerufen hatte, um die Streikposten seiner eigenen Arbeiterschaft auseinanderzutreiben. Wenn die Studenten dieses Lied sangen, zeigten sie besondere Teilnahme. Sie empfanden es als ihr Lied. Sie identifizierten sich damit.
Manchmal sah Antonio beim Singen auch ein paar frühere Kommilitonen von Carla.
»Statt zu arbeiten, laufen sie herum und richten Schaden an«, sagte er, als er ihr beim Abendessen davon erzählte.
»Sie glauben halt an ihre Ideale«, erwiderte sie verteidigend.
»Klar, die Ideale«, seufzte Antonio. »Zu viele Ideale.«
Die Studenten gaben sich nicht mit kleinen Zugeständnissen zufrieden: Sie wollten alles. Und das ertrug er einfach nicht mehr. Ihm reichte es schon, sie zu beobachten, um zu wissen, wie sie drauf waren. Sogar mit ihrem Äußeren unterstrichen sie ihr Anderssein: lange Haare, Jeans, Miniröcke, derart abgeänderte Militäruniformen, dass die Symbole der Macht lächerlich wurden. Allerdings musste man anerkennen, dass die jungen Leute eine außergewöhnliche Vitalität an den Tag legten und alles mit besonderer Leichtigkeit taten. Vor allem die Mädchen. Martinez fand sie alle wunderschön, so schön, dass er sich jeden Tag in eine andere verknallte. In ihren Blicken lag Idealismus, und die Sinnlichkeit ihrer Bewegungen war ungekünstelt. In dem Aufruhr der Gefühle, den das Jahr 1968 auch im Verhältnis der Geschlechter brachte, begann man (wenn auch konfus) die Frage nach dem Wesen des Männlichen und Weiblichen zu stellen. Und die Frauen hatten die eiskalte und wasserstoffblonde Patty Pravo zu ihrer Galionsfigur erwählt: Mit ihrer Schamlosigkeit verkörperte sie perfekt sowohl das Symbol der Emanzipation als auch das der jugendlichen Unrast. Ihr Lied Ragazzo triste traf die Gefühle vieler jungen Leute und wurde schnell eines der beliebtesten Lieder auf Studentenkonzerten.
»Dieses Mädchen aus dem Piper würde ich sofort vernaschen«, meinte Martinez jedes Mal, der dem hormonellen Ansturm nur mühsam standhielt. »Obwohl sie Kommunistin ist!«
Die Männer bevorzugten Un ragazzo di strada von den Corvi, ein Lied, das auch Santi mochte. Wie so vieles an der Studentenbewegung: die Solidarität, das Engagement für die gemeinsame Sache, das Teilen derselben Ideale. Es gab Momente, in denen er am liebsten wirklich einer von ihnen gewesen wäre, einer Sache angehören, sie bedingungslos teilen wollte. Doch das Gefühl war nicht stark genug, um auf die Barrikaden zu gehen. Trotz aller Sympathien, die er manchen ihrer Überzeugungen entgegenbrachte, blieb er doch lieber diesseits der Barrikaden, um all jene zu verteidigen, die anders dachten; auf der Seite der ›schweigenden Mehrheit‹, von der die Zeitungen immer sprachen.
3
›Huren sind Hundefleisch‹, denkt Prestiné, während ihm langsam die Luft ausgeht. Eine Klinge steckt in seiner Kehle, und er kann nichts mehr sagen. Schuld daran ist diese Nutte, besser gesagt er selbst, weil er seinen verfluchten Mund nicht halten konnte.
Pietra sieht ihm beim Sterben zu, raucht eine Gitanes und hat nicht die geringste Eile.
»Du musst bei ihm bleiben, bis er abkratzt«, lautete Vandellis Auftrag. »Er darf nicht in letzter Minute gefunden und gerettet werden, verstanden? Das Arschloch muss sterben. Langsam.«
Prestiné stirbt einen filmreifen Tod. Und während er sein Leben aushaucht, laufen vor seinem inneren Auge verschwommen die Bilder seiner Erinnerung ab. Geschnappt wurde er, als er zwischen zwei Ofenladungen eine Kippe rauchte, vor derselben Tür, wo er Vandelli gesehen hatte. Pietra und Romolino erwarteten ihn genau wie damals die Bullen an dem Nebelabend des Verrats. Der Bandit vom Giambellino liebt offensichtlich die Allegorie. Stessa spiaggia stesso mare , wie es in dem Lied von Piero Focaccia heißt.
›Warum muss einem bloß beim Sterben dieser ganze Scheiß durch den Kopf gehen?‹, fragt er sich.
Er wusste, dass Vandelli ihm nicht verzeihen würde. Er hatte damit gerechnet. Er selbst war schuld, er allein. Wenn er bei dieser Nutte nur den Mund gehalten hätte, würde er jetzt in aller Ruhe das nächste Blech Brötchen in den Ofen schieben. Aber er musste dieser Mulatten-Fotze ja alles erzählen. Rammeln und quatschen, quatschen und rammeln. Im Genuss schwelgend große Reden führen, wie er den tollen
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