Milas Lied
sie hoffte immer noch darauf, dass mein Vater eines Tages zu ihr zurückkommen würde, nicht nur um Glühbirnen zu wechseln. Wenn ich meinem Vater in die Augen sah, wusste ich, dass meine Mutter sich da lieber keine allzu großen Hoffnungen machen sollte.
Dennoch war ich weit davon entfernt, mich auf ihre Seite zu schlagen. Dafür hätte sie erst mal aufhören müssen, mich wie ein Kleinkind zu behandeln. Sie schaffte es ja noch nicht einmal anzuklopfen, bevor sie in mein Zimmer kam. Und wenn ich im Haus irgendwelche Sachen rumliegen ließ, sammelte sie sie ein und legte sie auf einen Stapel. Als würde ich immer noch mit Bauklötzen spielen, die alle in die große, rote Holzkiste gehörten.
Den Umstand, dass ich seit einem halben Jahr mein eigenes Leben führte, schien sie nicht zur Kenntnis zu nehmen. Vielleicht war der Gedanke, dass auch ich sie nicht mehr so brauchte wie früher, einfach zu schmerzlich für sie. Wenn ich ihr doch einmal etwas von der Uni oder meiner WG erzählte, erntete ich ihr mildes, wissendes Lächeln. Keine Ahnung, was passieren musste, damit sie mich endlich ernst nahm. Mila erwähnte ich natürlich mit keiner Silbe.
Hannah hätte ich gern wiedergesehen, aber Hannah war nicht da. Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich mir eine andere Ferienwoche für meinen Besuch ausgesucht. Aber Hannah hatte weder auf meine Mails noch auf meine Anrufe reagiert und so war ich eben auf gut Glück gefahren.
Durch Zufall traf ich ihre Schwester im Supermarkt. Sie sagte mir, dass Hannah in Irland sei. Mit ihrem neuen Freund. Früher war es mal unser Plan gewesen, zusammen nach Irland zu fliegen und mit Fahrrad und Zelt an der Westküste rumzufahren. Hannah wollte unbedingt einmal an den Cliffs of Moher liegen und in den Atlantik spucken. Ich wollte ein Schaf entführen. Wir hatten so einiges verpasst.
Nach einer Woche fuhr mich mein Vater wieder zum Bahnhof. Seltsam, im Auto roch es wie früher. Nach Klimaanlage und Keksen und Papas herbem Parfüm. Nach Sommerferien. Meine Mutter stand an der Haustür und winkte.
Ich war so froh, als ich wieder in Berlin war. Ich freute mich sogar auf Theo und auf Achims stinkige Kneipe.
Die Hoffnung auf ein Lebenszeichen von Mila schwand mit jedem Tag und schließlich hatte ich sie so gut wie aufgegeben. Zumindest fragte ich mich nicht mehr ständig, wo Mila war und warum sie sich nicht meldete. Bis vor einer Stunde. Seit ich das fremde Mädchen am Bahnsteig gesehen hatte, war Mila wieder in meinem Kopf und mit ihr all die bohrenden Fragen.
Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn es den Kulturverein gar nicht gegeben hätte, der Mila angeblich engagiert hatte. Ich wusste einfach nicht mehr, was ich von diesem Mädchen halten sollte. Theo hatte mir Milas Nummer gegeben, aber ans Telefon ging sie nicht. Zumindest in diesem Punkt verhielt sich Mila mal meinen Erwartungen entsprechend. Die Adresse ihrer WG kannte ich auch nicht und im Gegensatz zu Mimi verewigte Mila ihr Leben nicht auf irgendwelchen Internetseiten. Der Verein war somit die einzige Spur, die sie mir hinterlassen hatte, und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie mich tatsächlich zu ihr führen würde. War das nicht viel zu einfach? Aber es gab ih n – den Verein, und ich musste noch nicht mal besonders lange danach googeln. Mein Plan kam mir ein wenig verwegen vor und ich fühlte mich wie eine armselige Spionin. Dennoch griff ich zum Telefon und wählte die Nummer, die auf der Homepage angegeben war.
Nach langem Klingeln ging tatsächlich jemand ran. Die Frau am anderen Ende der Leitung klang überrascht, als ich mich nach Mila erkundigte und nach der WG, in der sie angeblich wohnte. Dann fragte sie mich, was ich denn mit Mila zu tun habe und was ich von ihr wolle. Die Skepsis in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Aber das war mir egal. Sie kannte Mila und allein diese Tatsache löste eine Welle der Erleichterung in mir aus. Allmählich war es mir nämlich so vorgekommen, als wäre ich einem Phantom hinterhergejagt.
Ich erzählte der Frau, dass ich eine Freundin von Mila sei und sie dringend sprechen müsse, woraufhin sie sich meinen Namen notierte.
Nach einigem Betteln meinerseits und Zettelrascheln am anderen Ende rückte die Frau eine Telefonnummer raus. Sie gehörte einem WG-Bewohner namens Andreas, der mir vielleicht weiterhelfen konnte.
Mein Herz raste. Der Notizblock mit der Nummer lag vor mir auf dem Tisch, doch mein Enthusiasmus hatte mich verlassen. Dabei
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