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Milas Lied

Milas Lied

Titel: Milas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Keil
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seine Schuhe. Ich starrte aus dem Fenster. Blau, dachte ich plötzlich. Blaue Schuhe! Dann stiegen die Leute aus und ein und ich verlor sie aus den Augen.
    »Einsteigen bitte. Zurückbleiben bitte.«
    Die Türen fingen an zu lärmen und zu blinken. Auch in mir begann alles zu lärmen und zu blinken. In letzter Sekunde sprang ich auf und quetschte mich durch die sich schließenden Türen nach draußen. Am Bahnsteig rannte ich fast ein Kind mit Roller über den Haufen. Ich drängelte mich weiter durch zu den Fahrplänen und blieb wie angewurzelt stehen. Alle Geräusch e – das pöbelnde Kind, die davonfahrende S-Bah n –, alle Bewegungen um mich herum verschwammen, nur dieses Mädchen, das die Abfahrtzeiten studierte, wurde gestochen scharf: dunkle Locken, braune Trainingsjacke, die gelbe Tasche, auf der ein rotes Ampelmännchen leuchtete. Ich wusste es längst und trotzdem sah ich auf seine Turnschuhe, die bei näherem Hinsehen gar nicht mehr blau waren, sondern türkis: Das waren nicht Milas Schuhe. Das war nicht Mila.
    Ich spürte das Gewicht in meiner Tasche, das schlaue Buch, einen Kaktusstachel in der Brust. Willenlos ließ ich mich von den Leuten weiterschieben, die von der Rolltreppe in Scharen auf den Bahnsteig strömten.
    So heftig wie seit Wochen nicht mehr fühlte ich unter all diesen Menschen Milas Abwesenheit. Ich fühlte wieder die dumpfe Enttäuschung, die brennende Scham. Meine Erwartungen hatte dieses Mädchen zerplatzen lassen wie Seifenblasen und war selbst die größte unter ihnen: schön, schillernd, zur Explosion bereit oder zum lautlosen Davonschweben. Mila hatte sich mal wieder fürs Davonschweben entschieden.
    Jeden Tag, an dem ich sie nicht gesehen hatte, war mir eine Erinnerung an sie verloren gegangen. Inzwischen waren die Bilder von ihr in meinem Kopf zu einem spärlichen Häuflein zusammengeschrumpft. Obenauf lag immer noch mein Lieblingsbild: Mila mit einem roten Badetuch auf dem Kopf, friedlich schaukelnd in meiner Hängematte. Eine halbe Stunde später war sie gegangen und einfach nicht mehr zurückgekommen.
    Keine Ahnung, was ich an diesem Abend vor zwei Monaten falsch gemacht hatte. Vielleicht nichts.
    Ich setzte mich auf eine Bank und beobachtete die Leute, ohne mich wirklich für sie zu interessieren. Mir fielen lediglich ihre farbenfrohen Hemden, Kleider und Röcke auf. Die tristesten Fasern trieben an diesem Tag bunte Blüten. Der Frühling war da. Die Aprilsonne stimmte die Gemüter versöhnlich, sogar hier am Gesundbrunnen, dem zweittrostlosesten Bahnhof, den ich kannte. Es war ein schöner Nachmittag.
    In die dritte S-Bahn stieg ich ein. Es war wieder sehr heiß, aber still. Niemand bekam Zähne. Auch wenn es sich für den Rest der Strecke fast nicht mehr lohnte, holte ich noch einmal das Buch hervor. Sein bloßes Gewicht und seine vergilbten Seiten beruhigten mich. Die vielen klugen Dinge, die dort geschrieben standen, konnten nicht weglaufen, sie würden auf mich warten. Ich schlug das Buch bei dem Kapitel auf, das Matuschke uns an diesem Morgen zum Einstieg empfohlen hatte. Darin ging es um Essgewohnheiten und darum, was sie über den Menschen verraten.
    Mein Vater mochte keinen Fisch. Im Teic h – j a –, aber nicht auf dem Teller. Bourdieu war zu dem Schluss gekommen, dass das an den Gräten lag. Einen Fisch zu verzehren, ist unmännlich, weil man ihn nicht wie ein Räuberhauptmann genüsslich herunterschlingen kann. Fisch muss man langsam im Mund aufweichen, weil sich sonst womöglich eine Gräte in der Speiseröhre verhakt und einen umbringt, wenn man Pech hat. Mehr als dreimal kauen mochte also gut für die Verdauung sein, war aber nur was für Mädchen. In den sieben Tagen, die ich während der Semesterferien im Haus meiner Eltern verbracht hatte, gab es kein einziges Mal Fisch.
    Mein Vater lebte inzwischen in einer Wohnung in der Stadt. Er kam jetzt nur noch am Wochenende oder auch jedes zweite, um meiner Mutter mit dem Haus zu helfen. Er kümmerte sich um die Elektrik und den Rasen und die Fische.
    Ich verstand nicht, warum sie sich diesen Riesenklotz immer noch freiwillig ans Bein banden, anstatt beide wegzuziehen und ein neues Leben zu beginnen. Für mich waren meine Eltern schon lange kein Paar mehr und daran änderte auch das blöde Haus nichts. Meine Mutter erklärte mir, dass das Haus gerade erst abgezahlt war und wie viel Arbeit und Erinnerungen darin steckten, und überhaupt könnte das Haus schon in ein paar Jahren ein Vielfaches wert sein. Ich glaube,

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