Milas Lied
war ich vielleicht nur noch einen Anruf von Mila entfernt. Ausgerechnet jetzt überkamen mich Zweifel, ob es wirklich so klug war, ihr hinterherzutelefonieren. Und auch mein gekränkter Stolz meldete sich zu Wort. Wieder lärmte und blinkte es in meinem Kopf. Meine Güte! Es war doch nur ein Anruf!
Am Ende siegte weniger der Heldenmut als die plumpe Neugier. Ich atmete tief durch und griff zum Hörer.
Es klingelte, dann hatte ich Andreas am Apparat. Er klang ziemlich verschlafen. Fauler Hippie, dachte ich spöttisch, und auf das Stichwort Mila folgte erst mal Schweigen.
»Hallo? Bist du noch dran?«, fragte ich verunsichert. Da hörte ich Andreas schnaufen. »Was willste denn von der?«
»Ich bin eine Freundin und ich mache mir ein bisschen Sorgen, wei l … weil sie sich so lange nicht gemeldet hat.«
»Die wohnt schon ewig nich mehr hier.«
»Seit wann?«
»Sei t … Februar? H m … j a … das kommt hin.«
»Und kannst du mir sagen, wo ich sie jetzt finde?«
»Moskau? Nowosibirsk? Was weiß ich, wo die sich rumtreibt.«
»Abe r … meinst d u … Soll das heißen, Mila ist gar nicht mehr in Deutschland?«
»Mann, woher soll ich das wissen? Ihr Visum müsste jedenfalls abgelaufen sein. Das war ja nur für drei Monate. Also schätze ich mal, dass sie wieder rüber is. Na ja, ob-woh l … Der is eigentlich alles zuzutrauen.«
»Was meinst du damit?«
»Bist du schwer von Begriff oder so?«
»Hat sie euch denn nicht gesagt, was sie vorhat?«
»Klar hat sie das! Ungefähr zehnmal am Tag. Sängerin wird sie, eine ganz große Künstlerin. Eine Ausnahme künstlerin. Scheiße, wie ich dieses Gelaber satthatte.«
»Klingt so, als hättet ihr euch nicht besonders gut verstanden?«
»Tja, ich steh nun mal nich so drauf, wenn man meine Leute von heute auf morgen hängen lässt, ohne ’n Piep zu sagen.«
Ich schluckte.
»Um allen Scheiß haben wir uns gekümmert, damit Madame sich hier wohlfühl t – Zimmer, Handy, sogar ’nen alten Laptop haben wir ihr besorgt, damit sie scypen kann, falls das Heimweh zu groß wird. Mann, sie hatte es uns zu verdanken, dass sie überhaupt herkommen durfte. Das kleine Wunderkind. Teilt sich die Bühne wohl nich gerne mit andern Kindern. Tja, das hätte sie sich mal vorher überlegen sollen. Is halt noch’n kleines Mädchen. Ich hab von Anfang an gesagt, dass das ’ne Scheißidee is. Als hätten wir hier keine guten Sängerinnen. Aber Werner hat drauf bestanden. Mila oder keine.«
»Werner?«
»Unser Vorstand.«
»Ach.«
»Der hat Mila bei ’nem Festival getroffen. Muss ’n ziemlichen Eindruck auf ihn gemacht haben, die kleine Ratte. Was weiß ich. Aber uns ging’s am Anfang ja genauso. Bis sie hier eingezogen is.«
»H m … kras s …«
»Wieso krass? Sag mal, reden wir von derselben Mila? Wenn du ihre Freundin bist, musst du doch wissen, wie sie drauf is.«
»Glaub scho n …«
»Wie war noch mal dein Name?«
»Rike.«
»Nie gehört.«
Da war er wieder, der Kaktusstachel. »Und du hast echt keine Idee, wo Mila hinwollte oder was sie für Pläne hatte?«, fragte ich noch einmal.
»Mir hat sie’s jedenfalls nich verraten. Wobei, sie hat mal so ’nen Typ erwähnt, kurz bevor sie abgehauen ist. Der wollte wohl Aufnahmen mit ihr machen. Keine Ahnung, was er ihr sonst noch versprochen hat. Hier rennt doch jeder Zweite rum und nennt sich Produzent, das kannst du alles vergessen. Aber weißt du was? Is mir auch egal. Von mir aus soll sie den Rentieren in Sibirien was vorsingen.«
»Tja, dan n …«, krächzte ich. Ich hatte mit so einigem gerechnet, aber mit so einem Gespräch ganz sicher nicht.
»Soll ich dir noch ’n Tipp geben?«
»Ja?«
»Vergiss sie einfach.«
Wenn das mal so leicht gewesen wäre! Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Und ich war hin- und hergerissen zwischen großer Sorge und großer Enttäuschung.
Falls es stimmte, dass Mila seit November in Deutschland war, so wie sie behauptet hatte, und falls stimmte, was Andreas mir erzählt hatte, dann musste Milas Visum ja schon irgendwann im Februar ausgelaufen sein. War der gemeinsame Abend am Valentinstag vielleicht ihre Art gewesen, sich von mir zu verabschieden?
Ganz gleich, was dahintersteckte, irgendwie war ich da in eine komische Geschichte hineingeraten. Was hätte ich denn besser finden sollen? Dass Mila wieder in Russland war, ohne mir was zu sagen, oder dass sie irgendwo ohne gültige Papiere durch Berlin strolchte? Außerdem kam ich mir total dämlich vor, weil ich bis
Weitere Kostenlose Bücher