Milchbart (German Edition)
du das finden, wenn du pennst bis in die Puppen? Da schau, die letzten beiden verlassen gerade den Speiseraum!
Fanni schenkte sich eine weitere Tasse Milch mit Kaffee ein, bestrich eine Scheibe Vollkornbrot mit Quark und Schwarze-Johannisbeer-Marmelade und zerbrach sich, während sie bedächtig kaute, den Kopf darüber, wie sie an Seibold herankommen konnte.
Die beiden Pfeile auf dem Glaskunstobjekt, das über dem Saftbüfett hing, zeigten Punkt neun Uhr an, als das Mädchen mit dem Piercing zu Fanni an den Tisch trat. Mit einem gequält freundlichen »Sie sind ja sicher fertig« griff sie nach Teller und Tasse.
Fanni stand auf. Sie fühlte sich unbehaglich, alleingelassen, hilflos.
Ruf ihn doch an! Wetten, er flitzt hierher, so schnell er kann!
Ja, dachte Fanni, mit Sprudel an meiner Seite würde es mir besser gehen. Wir könnten zusammen …
Nach dem Ohrring suchen?
… überlegen, wie wir an Seibold herankommen.
Mit neuem Schwung verließ sie den Speiseraum. Knall auf Fall hatte sie entschieden, Sprudel anzurufen und ihn zu fragen, ob er zwei Stündchen Zeit für sie hätte – jetzt sofort.
»Da sind Sie ja, Frau Rot, da sind Sie ja!«, tönte es ihr mehrstimmig entgegen, als sie ins Foyer trat und der Treppe ins Obergeschoss zustreben wollte.
Fanni glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Frau Praml, Frau Böckl und Frau Weber aus Erlenweiler kamen auf sie zu.
»Wir wollten Sie ja sowieso bald besuchen«, sagte Frau Weber.
»Aber nachdem uns Hans gestern erzählt hat, was hier vorgefallen ist«, fuhr Frau Praml fort, »haben wir uns gleich heute Morgen auf die Socken gemacht.«
»Wie geht es Ihnen denn, Frau Rot?«, fragte Frau Böckl.
Deine drei Nachbarinnen haben sich ja nicht im Mindesten verändert! Die Praml trägt noch immer eine Frisur wie Marge Simpson; Böckl und Weber erinnern einen nach wie vor an Dick und Doof, wenn sie nebeneinanderstehen!
Quatsch, dachte Fanni. Frau Böckl ist ein wenig füllig, aber das steht ihr gut. Frau Weber scheint manchmal etwas naiv, aber das täuscht. Und was Frau Pramls Frisur betrifft, fehlen gut fünfzehn Zentimeter zu Marge Simpsons Haarturm.
»Wollen wir uns nicht setzen?«, sagte sie und steuerte auf einen niedrigen Tisch zu, der von einem Arrangement aus bemoosten Zweigen und bunten Ranken, die wie aus Glas wirkten, halb verdeckt wurde und von Biedermeierstühlen (Imitationen, versteht sich) umgeben war.
Nachdem die Begeisterungsrufe der drei Damen abgeklungen waren (»Was für ein Ambiente!«, »Wie umwerfend geschmackvoll!«, »Einfach fabelhaft!«), sagte Fanni: »Ich darf Ihnen doch Tee bringen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte sie auf eine Anrichte neben der Treppe zu, auf der Kannen mit heißem Wasser, Portionsbeutel mit Tee und Kaffee, Zuckerwürfel, kleine Döschen mit haltbarer Milch und das nötige Geschirr bereitstanden.
Jetzt kannst du dich aber auf was gefasst machen! Eine peinliche Befragung unter dem Tribunal der heiligen Inquisition würde sich wie Trivial Pursuit ausnehmen gegen das, was dir nun bevorsteht!
Während Fanni den Tee servierte, widersprach sie lautlos ihrer Gedankenstimme: Keine Sorge, die drei wissen inzwischen garantiert mehr als ich.
Sie konnte sich bis ins Detail vorstellen, wie der gestrige Abend in Erlenweiler verlaufen war. Und sie lag damit in jeder Hinsicht richtig.
Nachdem Hans Rot – bei Geräuchertem, Essiggurken, Bauernbrot und ein paar Flaschen Teisnacher Ettl-Pils – die Neuigkeiten aus der Parkklinik bei den Webers abgeliefert hatte, war Frau Weber als Erstes zu Frau Praml gelaufen, um ihr sofort haarklein zu berichten, wovon in den Radionachrichten nur so enttäuschend kurz die Rede gewesen war. Frau Praml hatte daraufhin den Telefonhörer abgenommen und erst nach Mitternacht wieder aufgelegt; sie musste sich ja ausführlich mit ihren Mitstreiterinnen vom katholischen Frauenbund der Gemeinde Birkdorf besprechen, dessen Vorsitzende sie war. Frau Weber wiederum hatte sich gleich nach dem Besuch bei Frau Praml zu Frau Böckl aufgemacht und sie bei Baileys und Cremewaffeln ins Bild gesetzt. Auch das hatte sich bis weit nach Mitternacht hingezogen.
Als Frau Praml nach dem befriedigenden Abschluss ihrer Telefongespräche feststellte, dass bei Böckls noch Licht brannte, hatte sie die einzig logische Folgerung daraus gezogen und war nach schräg vis-à-vis geeilt, wo sie – wie erwartet – die beiden Nachbarinnen samt Baileys angetroffen hatte. Die Entscheidung, den ohnehin geplanten
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